— 1856 —
Ohne eine sanitätspolizeiliche Aufsicht gegenüber solchen Per-
sonen, welche gewerbsmälig Unzucht treiben, ist es aber unmöglich,
die in manchen Orten sehr erhebliche Ausbreitung der Geschlechts-
krankheiten zu verhüten. Die Bestrebungen der sogenannten Abo-
litionisten, welche darauf hinzielen, jede Überwachung der gewerb-
lichen Unzucht aufzuheben, sind in hohem Grade gefährlich. Sie
haben, wie das Beispiel von England zeigt, zu einer kolossalen Aus-
breitung der Geschlechtskrankheiten und zu einer schweren Schädigung
der Bevölkerung geführt. Es wäre ein großer Fehler, wenn man
hierauf verzichten wollte. Andererseits erscheint es geboten, schon
aus humanitären Gründen, aber auch im Interesse der Allgemeinheit,
die Überwachung der gewerblichen Unzucht so zu gestalten, daß sie
einen möglichst schonenden Charakter bekommt und die Menschen-
würde der Beteiligten möglichst wenig beeinträchtigt.
Hervorragende Sachverständige auf diesem Gebiete sind der
zutreffenden Anschauung, daß die wirksamste Bekämpfung der über-
tragbaren Geschlechtskrankheiten darin besteht, den erkrankten Per-
sonen eine möglichst gute ärztliche Behandlung in tunlichst bequemer
Weise zugänglich zu machen. Manche gehen so weit, zu verlangen,
daß diese Behandlung grundsätzlich unentgeltlich erfolgen soll. In-
wieweit die Kommunen und Kreise diesen Forderungen entsprechen
wollen, wird ihnen überlassen bleiben können; es wird aber wenigstens
das Prinzip, mit dem Behandlungszwange auch die Behandlungsmöglich-
keit zu gewähren, durchzuführen sein.
Diesen Anschauungen tragen die allgemeinen Ausführungsbe-
stimmungen zu S 9 in Ziff. 2 Rechnung. In Abs. 1 wird bestimmt,
daß Personen, welche gewerbsmäßig Unzucht treiben, anzuhalten sind,
sich an bestimmten Orten und zu bestimmten Tagen und Stunden zur
Untersuchung einzufiinden. Daß diese Untersuchung durch einen Arzt
zu geschehen hat, ist im Gesetz nicht ausdrücklich gesagt, weil es
sich von selbst versteht. Bei weiblichen Personen für diesen Zweck
Ärztinnen anzustellen, hat sich als empfehlenswert herausgestellt. Wird
bei einer Untersuchung festgestellt, daß die betreffenden Personen an
einer übertragbaren Geschlechtskrankheit leiden, so sind sie anzuhalten,
sich ärztlich behandeln zu lassen.
In Abs. 2 wird näher ausgeführt, wie in dieser Beziehung ver-
fahren werden soll. Es wird empfohlen, durch Einrichtung öffentlicher
ärztlicher Sprechstunden diese Behandlung möglichst zw erleichtern.
Dies kann z. B. in der Weise geschehen, daß die Polizeibehörden mit
bestimmten Polikliniken oder Spezialärzten ein Abkommen dahin treffen,
daß diese gegen ein bestimmtes Entgelt die freie Behandlung der be-
treffenden Personen übernehmen. Die betreffenden Ärzte werden diesen
Personen Ausweise in die Hand zu geben haben, auf denen vermerkt
ist, daß sie sich in ihrer Behandlung befinden, und in welchen Zwischen-