Gegen die Einführung der Anzeigepflicht für Verdachtsfälle sind
mancherlei Bedenken erhoben worden, die Jedoch nicht stichhaltig sind.
Die Behauptung z.B. daß die Anzeigepflicht für Verdachtsfälle
mit einer zu großen Belästigung für die Bevölkerung verbunden sei,
ist nicht zutreffend; denn die sanitätspolizeilichen Maßregeln werden
sofort aufgehoben, sobald sich der Verdacht als unbegründet heraus-
gestellt hat. Auch kann bei denjenigen Krankheiten, welche durch Bak-
terien erzeugt werden, — Aussatz, Cholera, Pest usw. — die Zeit der
Ungewißheit durch eine tunlichste Beschleunigung der bakteriologischen
Untersuchung außerordentlich abgekürzt, und z. B. bei Choleraverdacht
die Diagnose schon in 12—18 Stunden mit Sicherheit gestellt werden.
Selbst wenn aber ausnahmsweise einmal eine etwas längere Zeit dar-
über hingehen sollte, muß man es im Interesse der Allgemeinheit in
den Kauf uehmen; denn die Belästigung des einzelnen durch eine
etwas längere Unsicherheit kann gegenüber dem Nutzen, welchen die
Verhütung einer Epidemie für die Gesamtheit hat, nicht ins Gewicht fallen.
Es ist weiter behauptet worden, es sei schwer zu bestimmen,
wann eine Erkrankung als aussatz-, cholera-, pest- u. s. w. verdächtig
anzusehen sei. Für den Arzt, der der Entwickelung der Wissenschaft
mit Aufmerksamkeit folgt, trifft dies sicher nicht zu. Der Verdacht
einer übertragbaren Krankheit muß bei ıhm Platz greifen, wenn er
Symptomen begegnet, die der betreffenden Krankheit eigentümlich
sind, und dieser Verdacht muß um so stärker werden, je zahlreicher
und je ausgesprochener diese Symptome werden. Daß aber auch
Laien Verdachtsfälle richtig beurteilen können, sollen die vorstehend
erwähnten Belehrungen ermöglichen.
Eigentümliche, zum Zerfall geneigte Knoten im Gesicht oder an
der Streckseite der Gliedmaßen oder länglich-rundliche Flecken mit
gefühllosen Zentren müssen den Verdacht des Aussatzes, plötzlich ein-
setzende, mit Erbrechen gepaarte Durchfälle, welche schnell zu Er-
schöpfung führen, wohl gar mit Wadenkrämpfen verbunden sind,
müssen den Verdacht der Cholera, Lungenentzündung mit reichlichem
Auswurf und schnellem Kräfteverfall müssen den Verdacht der Pest
oder von Milzbrand erwecken.
Manche Ärzte zögern auch deshalb mit der Erstattung der An-
zeige, weil sie fürchten, sie würden in den Augen ihrer Klienten
herabgesetzt, wenn der beamtete Arzt vielleicht erklären müßte, es
handle sich gar nicht um die angezeigte Krankheit. Demgegenüber
muß folgendes betont werden: Der beamtete Arzt, welchem ausnahms-
weise einmal etwas Derartiges vorkommt, muß Takt genug haben, um
seine abweichende Meinung so zu äußern, daß der behandelnde Arzt
darunter nicht leidet; und der behandelnde Arzt, der ausnahmsweise
einen solchen Irrtum begeht, braucht sich dessen nicht zu schämen,
denn irren ist menschlich, und es ist besser, eine Erkrankung als eine