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übersehen lasse, zu welcher Zeit der Verdacht erkannt werden kann;
so würden deshalb voraussichtlich ängstliche Ärzte, um nicht strafbar
zu werden, manche Fälle zur Anzeige bringen, von denen sich hinterher
ergebe, daß sie mit den vom Gesetze betroffenen Krankheiten nichts ge-
mein hätten. Um aber die Arzte und das ganze Publikum vor solchen
außerordentlich lästigen Verhältnissen zu schützen, sei es wünschens-
wert, die Verdachtsfälle im Gesetze nicht zu berücksichtigen.
„Im Hinblick auf die großen Verheerungen, die auch jetzt noch,
insbesondere Typhus und Kindbettfieber alljährlich im deutschen Vater-
lande anrichten — so sind z. B. im Jahre 1902 noch 28460 Typhusfälle,
davon fast 3000 mit tödlichem Erfolge, vorgekommen — dürfte es
nicht als eine Verbesserung des Gesetzes angesehen werden, wenn das
Herrenhaus jenen Standpunkt eingenommen hat. Nachdem dies aber
einmal geschehen war, handelte es sich schließlich für das Haus der
Abgeordneten um die Frage, ob es das Gesetz in der Fassung des
Herrenhauses annehmen oder das ganze Gesetz fallen lassen wollte.
Den ersteren Weg hat das Abgeordnetenhaus vorgeschlagen und hiermit
die Möglichkeit der Verabschiedung des lang ersehnten Gesetzes ge-
boten.“
Man muß Schmedding darin recht geben, daß die Wieder-
herstellung der Anzeigepflicht für Verdachtsfälle durch das Abgeord-
netenhaus das Zustandekommen des ganzen Gesetzes gefährdet hätte,
Gleichwohl kann man das Ergebnis der Verhandlungen des Land-
tages im Interesse der Volksgesundheit nur auf das tiefste beklagen,
um so mehr, als in einer Anzahl anderer deutscher Bundesstaaten
die Anzeigepflicht für Verdachtsfälle besteht, Preußen also trotz seines
Gesetzes von 1905 hinter jenen in der Wirksamkeit seiner Seuchen-
bekämpfung zurücksteht, wie sich aus folgender Übersicht ergibt. Es
sind nämlich bei folgenden Krankheiten in den nachstehend bezeich-
neten Bundesstaaten Verdachtsfälle anzeigepflichtig:
1. Genickstarre (übertragbare) in Sachsen, Mecklenburg-
Schwerin, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg und
Schaumburg-Lippe;
2. Kindbettfieber in Braunschweig, Schwarzburg-
Sondershausen und Schaumburg-Lippe;
3. Rotz in Braunschweig;
4. Rückfallfieber in Braunschweig;
5. Typhus in Sachsen, Braunschweig, Schwarzburg-
Sondershausen, Schaumburg-Lippe und Elsaß-Loth-
ringen.
Es ist dringend zu wünschen, daß in hoffentlich nicht allzu ferner
Zeit in allen deutschen Bundesstaaten, zumal in Preußen, die Anzeige-
pflicht für Verdachtsfälle der vorstehenden fünf übertragbaren Xrank-
heiten zur Einführung gelangen möge. Nicht eher wird ihre erfolg-
reiche Bekämpfung möglich sein.
Kirchner, Seuchenbekämpfung. 3