9. Der Sturz Tassilos. 39
wurden von der Abdikationsurkunde ausgefertigt, eines für den König, eines
für das Kloster des Herzogs, eines wird in der Kapelle des Palastes, im
Reichsarchiv, hinterlegt. Noch empfiehlt der unglückliche Herzog seine Kinder
der Gnade des Siegers, seitdem ist er und seine ganze Familie für uns ver-
schollen; wir kennen nur seinen Sterbetag (11. Dezember), nicht sein Todesjahr,
nicht einmal mit Bestimmtheit den Sterbeort.
Bayern hat keinen Geschichtschreiber gefunden wie Paulus Diaconus,
der den Griffel aus der Hand legte, als er den Untergang des langobardischen
Königshauses schildern sollte. In Bayern haben sich sogar die eigenen Großen
an der Vernichtung des agilolfingischen Herzogs beteiligt. Doch vergessen
wurde der letzte Agilolfinger nicht. Das Andenken lebte fort in den Klöstern
und im Volke. Dort beging man jährlich den Sterbetag des freigebigen
Stifters, hier ließ man den letzten Agilolfinger in blutiger Feldschlacht erliegen.
Auf Befehl des Siegers wird er nach der Sage geblendet, auf Bitten der
Fürsten aber begnadigt und ihm die Freiheit zurückgegeben. Unerkannt kommt
er nach dem Kloster Lorsch. Hier sieht der Frankenkönig während einer nächt-
lichen Andacht in der Kirche, wie der unbekannte Blinde von der Hand eines
Engels von Altar zu Altar geleitet wird. Erst im Todesfieber enthüllt Tassilo
seine Herkunft.
Tassilo verdient nicht weniger unsere Achtung als der Sachse Widukind.
Der Unbestand, den er vielleicht zuletzt zeigte, ist nicht einem schwankenden
Charakter zuzuschreiben, sondern einer unseligen Verkettung der Verhältnisse.
Die Verurteilung, die Tassilo in der Geschichte erfahren, geht auf den Bericht
der annales Laurissenses maiores zurück und doch ergibt eine Prüfung der
Annalen, daß sie von Anfang bis zu Ende die Tendenz verfolgen die Handlungs-
weise des Frankenkönigs zu rechtfertigen. Je mehr Worte der fränkische Be-
richterstatter macht, desto mehr verrät sich das böse Gewissen, die Schwäche
der zu verteidigenden Sache; der Bericht macht den Eindruck einer bestellten
Arbeit. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch das angebliche Geständnis Tassilos
zu würdigen. Der Bayernherzog wird nicht frei von Schuld gewesen sein;
aber der letzte Grund seines Verhängnisses lag nicht in seiner Schuld, sondern
in dem Bestand des bayerischen Herzogtums. In seinem Schicksal liegt
eine Tragödie.
Tassilo ist nicht dem Mangel an Herrscherbefähigung erlegen — die innere
Verwaltung Bayerns beweist das Gegenteil — vielmehr den Mitteln eines
überlegenen Weltreiches, dem Willen einer alle Zeitgenossen überragenden und
erdrückenden Persönlichkeit.
„Tassilo wurde später vor den König geladen und ihm nicht erlaubt
zurückzukehren.“ Das sind die einzigen Worte, mit denen Einhard der für
Bayern wie für das Frankenreich so folgenschweren Ereignisse des Jahres 788
gedenkt. Dieses Schweigen ist nicht minder vielsagend wie die Beredsamkeit
der Annalen.