Full text: Lesebuch zur Geschichte Bayerns.

598 125. Einnahme von Orléans. 
langsam durch Gärten und Häuser bis zur Vorstadt Le Petit St. Jean vor- 
rücken. Auf dem linken Flügel fand die 3. bayerische Brigade, welche die 
große, schnurgerade Straße von Paris her verfolgt hatte, heftigen Widerstand 
bei Bel Air. Da von hier die auf beiden Seiten bis in die Stadt hinein 
dicht mit Häusern besetzte Straße leicht zu verteidigen war, suchten die Bayern 
im Rücken zwischen Straße und Eisenbahn vorwärts zu kommen und gerieten 
darüber in hartnäckigen Kampf gegen die Gasfabrik und den Bahnhof 
Les Aubrays; auch die 4. Brigade, die rechts neben der 3. Brigade über 
Saran die feindliche Linie durchbrochen hatte, konnte nur die westliche Häuser- 
reihe nehmen. Daher ließ Tann den entscheidenden Stoß von Nordwesten 
her führen, indem er um 5 Uhr die 1. Brigade zwischen die 4. und die 
22. Division einschob. Es gelang den 32ern, den Bahndamm zu über- 
schreiten und den Feind zum Weichen zu zwingen; durch die Vorstadt St. Jean 
stürmte dann das 1. bayerische Regiment vor bis an das den Eingang in die 
Stadt sperrende Zollgitter. Major von Lüneschloß und sämtliche Offiziere 
setzten sich an die Spitze; durch eine gesprengte Nebentür drangen sie in die 
Stadt ein und bis zum Martroiplatz, auf dem das Reiterstandbild der 
Jungfrau von Orléans prangt, die einst die Stadt vor den Engländern ge- 
rettet hatte. In den Straßen trafen sich Bayern und Thüringer; hier an 
der Loire wurde die bisherige Waffenbrüderschaft zur innigsten Freundschaft. 
Die 1. bayerische und die 43. Brigade besetzten noch am Abend die wichtigsten 
Gebäude und die Loirebrücke. Die glänzenden Siege beider Tage kosteten etwa 
1100 Mann, von denen ein beträchtlicher Teil auf die 3. bayerische Brigade 
fiel. Die Franzosen verloren 4200 Mann, davon 2700 Gefangene. 
Zwei Tage vor der Einnahme von Orléans hatte Gambetta in 
Tours die Regierungsgeschäfte übernommen, das Innere und den Krieg, 
und mit mächtigem Wort das Volk zum Kampfe aufgerufen: „Große Pflichten 
werden euch auferlegt! Die erste dieser Pflichten ist, daß ihr keinen anderen 
Gedanken habt als den Krieg!“ Gambetta trat auf als Diktator; mit der 
gewaltigen Kraft seines Willens riß dieser einzige, vielumfassende Kopf Frank- 
reich mit sich fort und ergoß einen neuen Geist durch das Volk. Ihm allein 
war die ungeheure Anstrengung zu verdanken, der sich das Land unterzog. 
Nicht weniger als elf Armeekorps, 600000 Mann, stampfte er innerhalb von 
vier Monaten wie aus der Erde. Bewaffnung und keineswegs schlechte Aus- 
rüstung für diese Massen wurden blitzschnell besorgt, anfangs unter der starken 
Beihilfe Amerikas und Englands, deren Kaufleute bereitwilligst Gewehre und 
Patronen lieferten. 1404 neue Feldgeschütze kamen ins Feuer; die Granaten 
erhielten jetzt Schlagzündung und wirkten weit mehr als die früheren. Schnell 
hergestellte Kriegskarten belehrten die Offiziere über die ihnen unbekannten 
Gegenden; ein tüchtiges Geniekorps bildete sich aus Privatleuten, meist Tech- 
nikern der Fabriken. Vortrefflich verstand die Armeeleitung das Eisenbahnnetz 
auszunutzen. Ganz Frankreich war ein mobiles Kriegslager.
	        
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