Full text: Lesebuch zur Geschichte Bayerns.

602 126. Eine gefährliche Eisenbahnfahrt. 
mittag des 9. noch die Wache in Orléans hielt, abgezogen sei, mit dem ganzen 
Fahrpark und allem, was in demselben untergebracht werden könnte, den 
Bahnhof zu verlassen. Hierzu stand aber nur eine seit 7. November not- 
dürftig zusammengeflickte, französische Lokomotive „Bucephale“, mit höherer 
Erlaubnis „von der Tann“ umgenannt, zu Gebote. Deren Leistungsfähig- 
keit war nicht zu viel zuzumuten, während der Ernst der Dinge immer 
klarer wurde. 
Schon in den Morgenstunden gingen Gerüchte, in der Stadt sei auf 
Deutsche geschossen worden. Der Ingenieur Gustav Ebermayer, Führer der 
hier tätigen Arbeitssektion der Feldeisenbahn-Abteilung, teilte die sämtlichen 
vorhandenen Wagen, etwa 40 an der Zahl, in zwei Transporte, um sie nach- 
einander aus Orléans wegzubringen. Um ½9 Uhr vormittags kam von der 
Stadtkommandantschaft der Befehl mit der Abfahrt noch zu warten, bis die 
ersten Nachrichten vom Schlachtfelde da seien. Gegen ½11 Uhr traf die 
Ordre ein nunmehr alles nach Artenay, der nahezu 20 km von Orléans 
gelegenen Station der Pariser Linie, in Sicherheit zu bringen und kurz darauf 
dampfte die Maschine mit dem ersten Zug zum Bahnhof hinaus. Der Führer 
hatte Auftrag von Artenay sogleich mit der Maschine zurückzukehren um auch 
den zweiten Zug, für dessen gleichzeitige Fortschaffung die Stärke der Lokomo- 
tive nicht ausgereicht hätte, fortzuführen. 
Inzwischen begannen die Ereignisse zu drängen. Um ½12 Uhr zog die 
Bahnhofwache mit der letzten Kompagnie des Leibregiments ab und mit der- 
selben befehlsgemäß auch der auf der Straße mit den Rüstwagen sich be- 
wegende Teil des Detachements. Am Bahnhof befand sich jetzt nur noch ein 
kleines Häuflein von Geniesoldaten, welches zur Deckung des Zuges dienen 
sollte, ungefähr 25 Mann, und außer dem Ingenieur ein Maschinenmeister 
und Bahnmeister, nebst Hilfspersonal, alle sehnsüchtig der rückkehrenden Ma- 
schine harrend, denn die Lage im Bahnhofe fing an höchst ungemütlich zu 
werden. Massen von Pöbel, Blusenmännern, deren Orléans als Fabrikstadt 
viele Tausende zählte, hatten sich, sobald die Stadt von allem deutschen Militär 
entblößt war, in den Bahnhof hineingedrängt und näherten sich unter Geschrei 
und Gejohle immer mehr dem bayerischen, zur Abfahrt bereit stehenden Zuge. 
Es war bereits ½1 Uhr und von der Lokomotive, welche längst zurück sein 
sollte, ließ sich noch immer nichts sehen. Wenn nun der notdürftig geflickten 
Maschine ein Unfall begegnet wäre, der sie überhaupt an der Rückkehr hinderte? 
— Diese schlimme Möglichkeit mußte allmählich in Erwägung gezogen werden, 
und als auch gegen 1 Uhr dem in die Ferne spähenden Auge von der er- 
sehnten Rauchsäule sich nichts zeigte, der Andrang der Volksmenge aber immer 
stärker wurde, durfte Ebermayer die Verantwortung für längeres Zuwarten 
nicht mehr übernehmen und befahl daher den Abmarsch. 
Dieser wurde zu Fuß auf der Bahnlinie bewerkstelligt und das not- 
wendigste Gepäck auf kleinen, mit der Hand geschobenen Bahnwagen mitgeführt.
	        
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