135. Die feierliche Verkündigung des deutschen Kaiserreichs. 621
Welch gewaltige, weltumgestaltende Ereignisse hatten geschehen müssen,
daß diese glänzende deutsche Versammlung in diesen Räumen zu solchem Zwecke
tagen konnte! Es war ein Zug großartiger Ironie der Geschichte, daß sich
König Wilhelm im Versailler Königsschlosse zum Deutschen Kaiser ausrufen
ließ, an derselben Stätte, wo seit den Tagen Richelieus so viele Pläne zum
Verderben Deutschlands gefaßt worden waren, wo so viele bildliche Dar-
stellungen an die Zeiten der Schmach und der Zerrissenheit des deutschen
Volkes und an die ehemaligen Gewalttaten Frankreichs erinnerten.
Nach dem Chorgesange wurde die Liturgie in der für den Militär-
gottesdienst üblichen Weise ausgeführt. Es folgten a capella-Gesang, Choräle
von Posaunen geblasen, Gebet und Predigt.
Nach Beendigung der religiösen Feierlichkeit trat der 74jährige König
frisch und rüstig wie ein Jüngling durch die Reihen der Versammlung auf die
erhöhte Estrade zu. Hier, auf der teppichbedeckten Estrade, standen die Fahnen-
und Standartenträger im Halbkreise geordnet; jeder Träger in voller Aus-
rüstung mit helmbedecktem Haupte, den gerollten Mantel über Schulter und
Brust. Unter Vortritt der Hofmarschälle betrat König Wilhelm mit den
Fürsten und den Prinzen die Estrade, wo die letzteren in leicht gekrümmter
Reihe ihren Stand nahmen. Nahe vor der Fahnengruppe stand in der
Mitte der König und zwar in voller Generalsuniform. So hielt er folgende
Ansprache:
„Durchlauchtigste Fürsten und Bundesgenossen! In Gemeinschaft mit
der Gesamtheit der deutschen Fürsten und freien Städte haben Sie sich der
von des Königs von Bayern Majestät an Mich gerichteten Aufforderung
angeschlossen, mit Wiederherstellung des Deutschen Reiches die deutsche Kaiser-
würde für Mich und Meine Nachfolger an der Krone Preußen zu übernehmen.
Ich habe Ihnen, durchlauchtigste Fürsten, und Meinen anderen hohen Bundes-
genossen bereits schriftlich Meinen Dank für das Mir kundgegebene Vertrauen
und Meinen Entschluß ausgesprochen Ihrer Aufforderung Folge zu leisten.
Diesen Entschluß habe Ich gefaßt in der Hoffnung, daß es Mir unter Gottes
Beistand gelingen werde die mit der kaiserlichen Würde verbundenen Pflichten
zum Segen Deutschlands zu erfüllen. Dem deutschen Volke gebe Ich Meinen
Entschluß durch eine heute von Mir erlassene Proklamation kund, zu deren
Verlesung Ich Meinen Kanzler auffordere.“
Hierauf verlas der Bundeskanzler Graf Bismarck die ewig denkwürdige
Proklamation. Graf Bismarck stand im Saale an der unteren Estradenstufe
als der erste der versammelten Minister und Generale im blauen Waffenrock
seiner Kürassiere und in hohen, schweren Reiterstiefeln. Er hielt das auf-
gerollte, inhaltschwere Dokument an beiden Kanten mit der rechten und der
linken Hand; an der linken hing zugleich der Stahlhelm am Riemen. So
dastehend las er zum König gewendet bei lautloser Stille der Versammlung
diese Proklamation: