Full text: Lesebuch zur Geschichte Bayerns.

136. An Deutschland. 
136. An Deutschland. (Januar 1871). 
Von Emanuel Geibel!) 
Nun wirf hinweg den Witwenschleier, 
Nun gürte dich zur Hochzeitsfeier, 
O Deutschland, hohe Siegerin! 
Die du mit Klagen und Entsagen 
Durch vier und sechzig Jahr' getragen, 
Die Zeit der Trauer ist dahin; 
Die Zeit der Zwietracht und Beschwerde, 
Da du am durchgeborst'nen Herde 
Im Staube saßest tiefgebücht 
Und kaum dein Leid mit leisem Weinen 
Mehr fragte nach den Edelsteinen, 
Die einft dein Diadem geschmücht. 
Wohlglaubtensie dein Ichwertzerbrochen, 
Wohl zuchten sie, wenn du gesprochen, 
Die Achsel hühl im Völkerrat; 
Doch unter Tränen wuchs im stillen 
Die Sehnsucht dir zum heil'gen Willen, 
Der Wille dir zur Kraft der Tat. 
Und endlich satt die Ichmach zu tragen 
Zerrissest du in sieben Tagen 
Das Netz, das tödlich dich umschnürt, 
Und heischtest, mit beherztem Schritte 
Hintretend in Europas Mitte, 
Den Dlatz zurüch, der dir gebührt. 
Und als der Erbfeind dann, der Franze, 
Nach deiner Ehren jungem Kranze 
Die Hand erhub von Neid verzehrt: 
Zur Riesin plötzlich umgeschaffen, 
Wie stürmtest du ins Feld der Waffen, 
Behelmte, mit dem Flammenschwert! 
O große, gottgesandte Stunde, 
Da deines Haders alte Wunde 
Die heil'ge Not auf ewig schloß 
Und wunderhräftig dir im Innern 
Aus alter Zeit ein stolz Erinnern, 
Ein Bild zuhünft'ger Größe sproß! 
Cotta. 
  
Wie Erz durchströmte deine Glieder 
Das Mark der Nibelungen wieder, 
Der Geist des Herrn war über dir 
Und unterm Schall der Kriegsposaunen 
Aufpflanztest du der Welt zum Staunen 
In Frankreichs Herz dein Siegspanier. 
Da war dir bald mit Blut beronnen 
Des Rheins Juwel zurüchgewonnen, 
Dein Kleinod einst an Kunst und Pracht, 
Und, dessen leuchtend Grün so helle 
In Silber faßt die Moselwelle, 
Der lotharingische Smaragd. 
O laß sie nicht verglüh'n im Dunkeln! 
Verjüngten Glanzes laß sie funkeln 
Ins Frührot deiner Osterzeit! 
Denn horch, schon brausen Jubellieder 
Und über deinem Haupte wieder 
Geht auf des Reiches Herrlichkeit! 
Durch Orgelton und Schall der Glochen 
Vernimmst du deines Volks Frohlochen? 
Den Heilruf deiner Fürstenschar? 
Sie bringen dir der Eintracht Zeichen, 
Die heil'ge Krone sondergleichen, 
Der Herrschaft güldnen Apfel dar. 
Auf Recht und Freiheit, Kraft und Treue 
Erhöh'n sie dir den Stuhl aufs neue, 
Drum Barbarossas Adler kreist, 
Daß du vom Fels zum Meere waltend, 
Des Geistes Banner hoch entfaltend 
Die Hüterin des Friedens seist! 
Drum wirf hinweg den Witwenschleier! 
Drum schmüche dich zur Hochzeitsfeier, 
O Deutschland, mit dem grünsten Kranz! 
Flicht Myrten in die Lorbeerreiser! 
Dein Bräut'gam naht, dein Held und 
Kaiser, 
Und führt dich heim im Siegesglanz. 
1) „Von 1866 bis 1871“. Gesammelte Werke, IV. Band, S. 255. Stuttgart 1888,
	        
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