632 140. Bayreuth.
den Abgrund in die verdämmernde Ferne. Freude an satten Farben, an
Mannigfaltigkeit der Formen, an gediegener Pracht offenbart sich im größten
wie im kleinsten Raum; Schönheit ist überall; Schilderungen, selbst Abbildungen
lassen sie nur ahnen, beide versagen die Stimmung.
Feierliche Stille lagert über der Natur. Wie für die Ewigkeit geschaffen
ragt diese königliche Burg, auf ehernem Untergrund emporgewachsen, in die
Lüfte. Und dieser Untergrund ist von Menschenhand ertrotzt, die in jahre-
langem Mühen den Felsen bezwang und, wo dessen Zerklüstung dem Bau
wehrte, ganze Berge unwiderstehlicher Quadern einfügte. Das sieht man schon
hier: dieser Bau ist geschaffen zu dauern, und wenn je einmal Schloß Herren-
chiemsee und Linderhof verfallen von ihrem einstigen, prunkvollen Märchen-
dasein träumen, dann wird Neuschwanstein noch immer die eherne Sprache
einer unverwüstlichen Gegenwart reden.
Weiter hinauf gegen das Gebirge zu ist die tiefe Pöllatschlucht über-
brückt. Ein schmaler Eisensteg schwebt 300 Fuß hoch über dem lebenden
Wasser. Wer hier, von der Marienbrücke, hernieder oder durch die Pöllat-
schlucht hindurchschaut oder von Westen aus den Blick über Tannendunkel
hinwegsendet, der wird sein Sehnen von einer Götterburg verkörpert sehen,
denn hier blickt er auf Walhall. Dort auf der Marienbrücke stand Ludwig
gern und oft in wolkiger Sommernacht oder unter dem brennenden Sternen-
himmel des Winters. Dann funkelte im dunklen Gemäuer auf dem Tegel-
felsen da und dort ein Fenster auf; dann grüßte ihn aus seinem Erker freund-
liches Licht; dann erstrahlte festlich der Thronsaal seiner stolzen Königsburg.
Und er hatte seine Freude.
140. Bayreuth.
Von Rudolf Louis."
Zwischen dem nordöstlichen Ende des Fränkischen Jura und den süd-
westlichen Ausläufern des Fichtelgebirges, am linken Quellflüßchen des Mains,
dem sogenannten „Roten Main“, liegt in weiter, von lieblich bewaldeten Hügeln
abgeschlossener Talebene Bayreuth, die Hauptstadt des bayerischen Regierungs-
bezirks Oberfranken. Wie so manch andere mittlere Stadt des deutschen
Vaterlandes verbindet Bayreuth den Reiz einer glänzenden und an Erinne-
rungen reichen Vergangenheit mit dem Vorzug einer kräftig emporstrebenden,
fortschreitend sich entwickelnden Gegenwart. Daß sein Name aber über die
ganze gebildete Welt erklingt, daß er mit Begeisterung genannt wird, wo immer
auf Erden sich Verständnis und Liebe findet für die Taten und Werke hoher
Kunst, daß mit ihm sich unwillkürlich die Erinnerung verbindet an einen der
stolzesten Siege, die deutscher Geist jemals auf künstlerischem Gebiete errungen
hat, das verdankt Bayreuth dem überragenden Genie des großen Künstlers,
der vor 35 Jahren die kleine Frankenstadt zum Mittelpunkt seiner künst-