Full text: Lesebuch zur Geschichte Bayerns.

74 17. Der Bayernstamm im altdeutschen Schrifttum. 
bildet, zeigt die Überlegenheit dieses größten dichterischen Vertreters des ganzen 
Bayernstammes am schlagendsten: was mißgünstige Nachbarn den Bayern 
nachsagen mochten, eine gewisse Unbeholfenheit im Auftreten, gerade das benutzt 
der Dichter um die Tapferkeit seines Stammes in helles Licht zu rücken. Aber 
auch sonst vergoldet ihm die menschenfreundlich-heitere Grundstimmung seines 
Wesens das ganze Leben und verleiht seiner Darstellungsweise wie seiner 
Sprache einen eigenen Reiz, eine Frische, eine Ursprünglichkeit und Anschaulich- 
keit, durch die sie hoch über der gedankenblassen Ausdrucksweise anderer höfischer 
Dichter steht. Es kam Wolfram zugute, daß seine bayerische Heimat weit 
genug von Frankreich, der Wiege und dem Musterland höfischen Wesens, 
ablag um nicht so stark von dorther beeinflußt werden zu können wie das 
Rheinland und Alamannien. Mochten die Alamannen immerhin den Bayern 
vorwerfen, daß ihren Dichtungen der Stempel höfischer Vollkommenheit fehle, 
mochte Gottfried von Straßburg über den großen Ungenannten, der nur 
Wolfram sein kann, als über einen „vindære wilder mære, der mære 
wilderæro“i) den Stab brechen: wir freuen uns, daß sich Wolfram gerade 
die Eigenschaft unverkümmert erhielt, die auch heute noch das beste Erbteil 
des bayerisch-österreichischen Stammes in seiner Unverbrauchtheit ist, naturfrische 
Ursprünglichkeit. Von ihr beseelt und durchdrungen verzichtet Wolfram gern 
auf erkünstelten Ernst und erzwungene Würde, von ihr geleitet tritt er herz- 
haft an die Dinge heran, sieht und schildert er sie, wie sie sind: je bezeichnender 
der Ausdruck, je anschaulicher das Bild, desto lieber ist es ihm. Wohl streift 
er dabei gelegentlich die Grenze des ästhetisch Zulässigen, ja er überschreitet 
sie auch ab und zu, aber immer ist es frisch pulsierendes Leben, das er uns 
bietet, nichts Totes, Erstarrtes, nichts Ausgeklügeltes, nur Erdachtes. 
Aber derselbe Dichter, der so trefflich zu schildern versteht, er haftet 
nicht an der Außenseite der Dinge; derselbe Mensch, der so herzlich lachen 
kann, ist auch des tiefsten Ernstes fähig. Schon die Wahl des Stoffes zu 
seinem Hauptwerk Parzival, mehr noch dessen Ausführung zeigt, daß Wolfram 
eine religiöse Natur im besten Sinne des Wortes, d. h. ein Mensch durch- 
drungen vom Walten einer höheren Macht, aber frei von jeder ungesunden 
Welt= und Lebensflucht und fern von jeder kaltherzigen Verfolgungssucht war. 
Auch darin scheint uns der liebenswürdige Dichter ein echter Sohn des Bayern- 
stammes zu sein, der sich durch die Jahrhunderte seiner Geschichte in menschlich- 
schöner Weise freigehalten hat von jeder Art von Zelotismus, aber stets ein 
tiefes Bedürfnis bekundete zu seinem Gott in einem herzlichen Verhältnis 
zu stehen. Darum konnte auch Wolfram die vielfach äußerlichen Geschehnisse 
seiner Vorlage in tiefere innere Beziehung zueinander setzen, das Ganze aus 
der Fülle seines Innenlebens bereichern und ihm eine Seele einflößen, so daß 
Wilhelm Scherer ihm gar wohl nachrühmen durfte: „Ein schriftunkundiger 
1) „Ein Erfinder befremdlicher Abenteuer, ein Geschichtenjäger.
	        
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