17. Der Bayernstamm im altdeutschen Schrifttum. 75
Deutscher hat den tiefsten Gehalt des europäischen Rittertums künstlerisch
verewigt.“ Aber auch Wolframs Zeitgenossen und die nach ihm Kommenden
hatten eine Ahnung von dieser Tiefe seines Wesens, so besonders sein Lands-
mann Wirnt von Gravenberg, wenn er von dem „wisen man von Eschen-
bach“ sagt:
„Sin herze ist ganzes sinnes dach:
Leien munt nie baz gesprach.“:)
Kann demnach der bayerische Stamm stolz darauf sein den tiefsinnigsten
und größten jener Epiker sein eigen zu nennen, die sich bemühten die wirren
Mären der Bretonen zu sinnvollen Taten zu läutern und die nationalen Vor-
kämpfer der Kelten zu Spiegelbildern reinsten Rittertums umzuformen, so ging
aus ihm auch die größte aller zeit= und sittenschildernden Dichtungen unseres
Mittelalters, der Meier Helmbrecht von Wernher dem Gartenäre,
hervor, jenes vorzügliche Zeitgemälde, das uns die Übeltaten eines dem Raub-
wesen verfallenen Adels und die verderbliche Überhebung seiner bäuerlichen
Spießgesellen in Bildern von überzeugender Lebenstreue vor Augen stellt.
Aber noch einen anderen Beweis seiner Begabung für kraftvolle Wirklich-
keitsschilderung hat der bayerische Stamm erbracht. Wir meinen die höfische
Dorfpoesie, die wie mit dem Pinsel eines Niederländer Meisters die derben
Sommer= und Wintervergnügungen eines kraftstrotzenden, selbstbewußten Bauern-
geschlechtes uns vergegenwärtigt. Ein bayerischer Ritter, Neidhart von
Reuental, war es, der diese neue Richtung aufbrachte, die einzige wirklich
neue, die nach Walter von der Vogelweide in der höfischen Lyrik noch aufkam.
Bringen wir außer dem bisher Betrachteten noch in Anschlag, daß das
mehrmals erwähnte Kloster Tegernsee uns im Antichristspiel das groß-
artigste Drama, das im Mittelalter auf deutschem Boden entstanden, auf-
bewahrt hat; berücksichtigen wir, daß die Nibelungensage um 990 zu Passau
auf Geheiß des Bischofs Piligrim zunächst in lateinischer Sprache aufgezeichnet
wurde, um 1200 aber ebenso wie die Gudrunsage im bayerisch-österreichischen
Stammesgebiet ihre herrlichste Ausgestaltung in deutscher Sprache erfuhr; be-
denken wir, daß Bayern den gewaltigsten Prediger des ganzen deutschen Mittelalters,
Bertold von Regensburg, hervorgebracht hat, dessen erschütternden Worten
Tausende auf freiem Feld in Zerknirschung lauschten; ziehen wir in Rechnung,
daß Bayern auf der Höhe des Mittelalters den großen Geschichtschreiber
Otto von Freising, zu Ende dieses Zeitraumes den trefflichen Aventin
uns geschenkt hat, so kann kein Zweifel über die Tatsache herrschen, daß der
bayerisch-österreichische Volksstamm während des Mittelalters in der Pflege des
heimischen Schrifttums hinter keinem deutschen Stamme zurückstand, ja, was
Zeit und Wert der Leistungen anbelangt, vielen mit rühmlichem Beispiel voran-
schritt. Um so auffallender muß die andere Tatsache des fast gänzlichen Ver-
1) „Sein Inneres birgt lauterste Weisheit; Laienmund hat nie besser gesprochen.“