Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

144 Fünfter Abschnitt: Die Funktionen des Reiches. $ 17 
  
  
lichen Vorschriften, welche mit dem Reichsgesetz in Widerspruch stehen, 
ipso jure ihre Geltung: ebenso treten formell ausser Kraft diejenigen, deren 
materieller Inhalt mit dem neuen Reichsgesetz übereinstimmt. 
Hiernach ergeben sich für die autonome Gesetzgebung der Einzelstaaten 
Beschränkungen. Unstatthaft sind Landesgesetze, welche Rechtssätze, die in 
einem Reichsgesetz enthalten sind, wiederholen oder authentisch erläutern. 
Ebenso Landesgesetze, welche die mit einem Reichsgesetz im Widerspruch 
stehenden landesgesetzlichen Vorschriften aufheben, da eine bereits aufge- 
hobene Vorschrift nicht nochmals aufgehoben werden kann. Nur wenn ein 
Reichsgesetz ausdrücklich die Einzelstaaten ermächtigt, diejenigen landes- 
rechtlichen Vorschriften im Wege der Gesetzgebung oder der Verordnung zu 
bezeichnen, welche durch das Reichsgesetz in Wegfall kommen, ist der Ein- 
zelstaat in der Lage, die Veränderungen, welche das Reichsgesetz an dem bis- 
herigen Rechtszustand hervorbringt, partikularrechtlich zu fixieren!). Ausser- 
dem kann das Reichsgesetz die Veranlassung bieten, landesrechtliche Vor- 
schriften, welche mit dem Reichsgesetz nicht in Widerspruch stehen, die aber 
durch dasselbe aus ihrem bisherigen Zusammenhange gerissen werden und deren 
Fortgeltung die Harmonie des neu geschaffenen Rechtszustandes stören würde, 
zu beseitigen, also die Wirkungen des Reichsgesetzes zu erweitern ?). Unzu- 
lässig sind selbstverständlich auch Landesgesctze, welche Rechtsvorschriften, 
die mit einem Reichsgesetz im Widerspruch stehen, einführen, oder welche 
reichsgesetzliche Anordnungen aufheben, zeitweilig ausser Wirksamkeit setzen 
oder abändern. Denn der Befehl der höheren Gewalt kann nicht durch den 
Befehl der untergeordneten aufgehoben oder verändert werden. Enthält ein 
Landesgesetz Vorschriften, welche teilweise mit einem Reichsgesetz im Wider- 
spruch stehen, teilweise nicht, so kann es insoweit rechtliche Verbindlichkeit 
erlangen, als seine Anordnungen mit denen des Reichsgesetzes vereinbar sind. 
Ein Reichsgesetz kann jedoch seine Vorschriften als subsidiäre oder eventuelle 
aufstellen, so dass sie nur in Ermangelung landesgesetzlicher Anordnungen 
gelten sollen ®). In diesem Falle steht es den Einzelstaaten frei, durch parti- 
kularrechtliche Normierung eines solchen Rechtsverhältnisses die Anwen- 
dung der reichsgesetzlichen Vorschriften auszuschliessen. In einigen Fällen 
übrigens hat das Reichsgesetz seine Bestimmungen als subsidiäre erklärt, 
dennoch aber die Landesgesetzgebung ausgeschlossen und nur der örtli- 
chen Rechtsbildung (Ortsgebrauch, Ortsstatut, Verordnung der Ortspolizei) 
den Vorrang vor seinen eigenen Vorschriften eingeräumt. 
1) Die Ausführungsgesetze zu den Reichsjustizgesetzen enthalten meistens ein 
Verzeichnis der ausser Kraft tretenden Landesgesetze im Interesse der Sicherheit der 
Rechtsanwendung. Die in einem solchen Gesetz nicht aufgeführten, mit dem Reichs- 
gesetz aber dennoch im Widerspruch stehenden landesgesetzlichen Vorschriften sind 
aber ebenso beseitigt, wie die ausdrücklich erwähnten. Denn der Einzelstaat kann die 
Wirkungen des Reichsgesetzes nicht dadurch abschwächen, dass er diese Wirkungen 
unvollständig aufzählt. 
2) Eine laudesgesetzliche Feststellung des Sinnes und der Tragweite einer reichs- 
gesetzlichen Bestimmung hat nur die Bedeutung einer wissenschaftlichen Interpretation. 
Vgl. Heinze im Gerichtssaal XXX 8. 588 und das treifliche Gutachten von Re- 
naud über die Gesetzgebungs-Frage, den Ausgleich zwischen deın Deutschen Reichs- 
recht und dem Code eiv. (Bad. Landr.) betreffend. JTeidelberg 1878. 
3) Fast alle grösseren Reichsgesetze enthalten zahlreiche Beispiele dafür.
	        
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