Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

$ 34. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. sol 
welche in verschiedenen Gesetzen aufgestellt worden sind. Für ihre 
allgemeine Beurteilung und Auffassung ist es von Wichtigkeit, daß sie 
weit weniger dem Zwecke dienen, das Interesse des einzelnen Wahl- 
berechtigten zu schützen, obwohl auch dies teilweise mit in Betracht 
kommt, als vielmehr eine Sicherheit dafür zu gewähren, daß der 
Reichstag als ein für das Reich so wesentliches Organ den für seine 
Zusammensetzung aufgestellten Verfassungsprinzipien gemäß auch wirk- 
lich gebildet werde. Das »Wahlrecht« ist überhaupt kein subjektives, 
im individuellen Interesse begründetes Recht, sondern lediglich der 
Reflex des Verfassungsrechts. Zur Verfassung des konstitutionellen 
Staates gehört ein Organ, durch welches die im Volke vorhandenen 
Ansichten, Tendenzen und Bedürfnisse in rechtlich geordneter Weise 
zum Ausdruck gelangen sollen; diesem Zweck entsprechend ist die 
Bildung und Zusammensetzung dieses Organes in der Art geregelt, 
daß die Einzelnen unter gesetzlich festgestellten Voraussetzungen und 
Bedingungen die Möglichkeit haben, an der Bildung desselben 
mitzuwirken. So wie das »Recht«, einer Schwurgerichtsverhandlung 
als Zuhörer beizuwohnen, kein subjektives, individuell ausgeprägtes 
Recht, sondern nur der Reflex des Grundsatzes von der Oeffentlich- 
keit der Gerichtsverhandlungen ist, oder so wie das »Recht zu appel- 
lieren« nur der Reflex der in der Prozeßordnung anerkannten Grund- 
sätze über die Rechtsmittel ist, so ist in derselben Art das »Recht zu 
wählen« nur der Reflex der verfassungsrechtlichen Regeln über das 
Verfahren behufs Bildung des Landtages oder Reichstages'). 
1) Jellinek, System S. 137fg., erklärt in Uebereinstimmung mit den oben- 
stehenden Erörterungen das Wählen „für eine staatliche Funktion, deren Subjekt 
niemals der einzelne als solcher sein kann“; aus dem objektiven Wahlrecht „leite 
sich für niemand ein subjektives Recht ab“. Demselben Gedanken gibt er S. 160 den 
sonderbaren Ausdruck: „Das Subjekt des Rechts, zu wählen, wie das jeder staat- 
lichen Einrichtung, ist ausschließlich der Staat (!), und nur Reflexwirkung ist es, 
wenn der einzelne als solcher ein derartiges Recht zu besitzen scheint.“ Dessen- 
ungeachtet bekämpft er meine Ausführungen und erklärt das Wahlrecht doch für ein 
subjektives Individualrecht. Dasselbe besteht aber keineswegs — sagt er 
S. 161 — in dem Recht, zu wählen, sondern in dem Recht des einzelnen auf An- 
erkennung in seiner Eigenschaft als Wähler, als Träger eines aktiven Status. 
Diese Schablone eines abstrakten Rechts auf Anerkennung irgend eines „Status“ 
spielt in dem System Jellineks eine hervorragende Rolle und wird zur Konstruktion 
zahlreicher subjektiver Rechte verwendet. Indes scheint mir dieses Recht von sehr 
problematischem Wert zu sein. Wenn ein subjektives Recht begründet ist, so ist 
ein Recht auf Anerkennung desselben überflüssig; denn der allgemeine Anspruch 
auf Rechtsschutz umfaßt alle subjektiven Rechte, und jedem einzelnen Recht noch 
ein besonderes Recht auf Anerkennung beifügen, heißt den Schatten einer Sache für 
eine Sache erklären. Wenn aber kein subjektives Recht, sondern nur ein Tatbestand 
oder Zustand vorliegt, an welchen sich gewisse Rechtswirkungen knüpfen (Reflexe 
objektiver Rechtssätze), so kann die Anerkennung dieses Tatbestandes oder Zustandes 
nur die autoritative Feststellung desselben und der Anspruch auf diese Feststellung 
nur eine prozessualische Befugnis zur Herbeiführung desselben sein. Wenn das Recht, 
zu wählen, also — wie Jellinek zugibt — kein subjektives Recht ist, so ist auch
	        
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