8 58. Die Rechtsverordnungen des Reichs. 97
für die Sanktion eines derartigen Gesetzes die für die Verfassungs-
änderungen gegebenen Regeln befolgt werden müssen, und noch weniger
kann man ein solches Gesetz für gänzlich unzulässig und verfassungs-
widrig erachten. Eine vielfach betätigte Praxis, deren Rechtmäßigkeit
niemals weder vom Reichstage noch vom Bundesrate oder der Reichs-
regierung angezweifelt worden ist, hat dieser Auffassung sich ange-
schlossen.
Es ergibt sich demnach folgendes Resultat: Eine allgemeine,
durch die Reichsverfassung selbst begründete Befugnis zum Erlaß von
Rechts verordnungen besteht nicht, wohl aber kann dieselbe in jedem
einzelnen Falle durch ausdrückliche Anordnung eines Reichsgesetzes
konstituiert werden. Oder mit anderen Worten: Jede Verord-
nung, welche Rechtsvorschriften enthält, kannnur
gültig erlassen werden auf Grund einer speziellen
reichsgesetzlichen Delegation‘').
Ill. Die Delegation ®) des Verordnungsrechts kann erfolgen zu-
gunsten des Bundesrates, des Kaisers, des Reichskanzlers oder einer
anderen Reichsbehörde, oder der Einzelstaaten®). Jeder dieser vier
Fälle bedarf einer näheren Erörterung. Vorauszuschicken ist die für
alle Arten von Verordnungen geltende Bemerkung, daß der juristische
Inhalt der Befugnis, Verordnungen zu erlassen, nicht in der Abfassung
der Verordnung, sondern in der Ausstattung derselben mit verbind-
licher Kraft, in dem Befehl, sie zu befolgen, besteht. Erlaß einer Ver-
ordnung bedeutet nicht die Feststellung ihres Wortlautes, sondern die
Sanktion der in ihr enthaltenen Rechtssätze. Es wird sich zeigen,
1) Dem entsprechend wird in jeder Verordnung in den Eingangsworten die Ge-
setzesbestimmung angegeben, auf Grund deren sie erlassen ist. Als eine wesent-
liche Form, deren Nichtbeobachtung die Ungültigkeit der Verordnung zur Folge
hat, kann dies zwar nicht erachtet werden, da die Reichsgesetzgebung die Formen,
in denen Verordnungen zu erlassen sind, überhaupt nicht geregelt hat. Materiell
hängt aber die Gültigkeit einer Verordnung von dem Vorhandensein einer gesetz-
lichen Delegation ab und es ist demgemäß die Praxis, diese Gesetzesbestimmung in
der Verordnung in bezug zu nehmen, durchaus sachgemäß. Vgl. Rosin, Polizei-
verordnungsrecht S. 261 fg.
2) Dyroff S. 877 bemängelt den Ausdruck „Delegation“. Daß es sich nicht
um eine Delegation im Sinne des Zivilrechts handelt, ist unzweifelhaft und wohl
von niemandem verkannt worden; es handelt sich immer nur um eine gesetzliche
Anordnung über das Organ, von welchem gewisse Vorschriften erlassen werden
sollen, oder, was dasselbe ist, über die Form ihres Erlasses. Der von Dyroff ge-
brauchte Ausdruck „bezugnehmende Gesetze“ eignet sich aber wegen seiner voll-
kommenen Unverständlichkeit nicht als technische Bezeichnung.
3) Wenn in einem Reichsgesetz bestimmt ist, daß die zur Ausführung erforder-
lichen Rechtsregeln „durch Verordnung“ erlassen werden sollen, ohne daß hinzuge-
fügt wird, von wem, so ist der Bundesrat als das hierzu berechtigte Organ anzu-
sehen; es ergibt sich dies aus seiner allgemeinen Stellung im Organismus des Reiches
Seydel, Hirths Annalen 1876, S. Ilfg. und im Jahrbuch von v. Holtzendorff-Bren-
tano Bd. 3, S. 284; E. Mayer, Krit. Vierteljahrschr. Bd. 27, S. 138; G. Meyer,
Staatsrecht 8 165, II, 1.