Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

98 8 58. Die Rechtsverordnungen des Reichs. 
daß auch bei den Verordnungen teilweise andere Regeln für die Fest- 
stellung ihres Inhaltes wie für die Sanktion gelten. 
1. Bundesratsverordnungen!). Die Beschlußfassung über 
dieselben erfolgt nach ganz denselben Regeln wie die Beschlußfassung 
über Gesetze. Jedoch ist das sogenannte Veto der Präsidialstimme in 
Angelegenheiten, welche das Militärwesen, die Kriegsmarine und die 
im Art. 35 der Reichsverfassung bezeichneten Abgaben betreffen, auf 
»Gesetzesvorschläge« beschränkt. Reichsverfassung Art. 5, Abs. 2. Daß 
hier das Wort »Gesetzesvorschläge« nur Gesetze im formellen Sinne 
bezeichnet, ergibt sich teils aus dem Zusammenhange mit Abs. 1 des- 
selben Artikels, welcher die Ausübung der Reichsgesetzgebung durch 
den Bundesrat und Reichstag behandelt, teils aus der Verglei- 
chung mit Art. 37, welcher das sogenannte Veto des Präsidiums gegen 
Bundesratsverordnungen in Angelegenheiten der Zoll- und Steuerver- 
waltung anerkennt. Es genügt auch das Veto gegen Gesetzesvor- 
schläge vollkommen, da es das Mittel bietet, die Delegation des Ver- 
ordnungsrechtes an den Bundesrat, die ja nur durch Gesetz erfolgen 
kann, zu verhindern. 
2. Verordnungen des Kaisers. Der Ausdruck Verord- 
nung wird vielfach auf kaiserliche Anordnungen angewendet, welche 
keine Rechtsvorschriften enthalten und sich in keiner Beziehung unter 
den Gesichtspunkt der Gesetzgebung bringen lassen, sondern ihrem 
Inhalte nach Anwendungen eines Rechtssatzes auf einen einzelnen 
Fall, Regierungsakte, Verfügungen sind. Dahin gehört z. B. der kaiser- 
liche Befehl, durch welchen die Reichstagswahlen ausgeschrieben, der 
Bundesrat und der Reichstag berufen, vertagt oder geschlossen werden, 
durch welchen auf Grund des Art. 65 der Reichsverfassung die Anlage 
eines Festungswerkes angeordnet wird, u. s. w. Wir reden hier aber 
nur von Rechtsverordnungen, d. h. von Anordnungen, welche ihrem 
Inhalte nach Gesetze sind. 
Der Erlaß solcher Verordnungen kann dem Kaiser entweder 
schlechthin delegiert werden oder mit der Einschränkung, daß er da- 
bei andie Zustimmung des Bundesrates gebunden ist’). In 
dem letzteren Falle tritt ebenso wie bei der förmlichen Gesetzgebung 
der Unterschied zwischen der Feststellung des Inhaltes und der Sank- 
tion der Verordnung zutage. Der Inhalt der Verordnung wird durch 
Vereinbarung festgestellt; die Herstellung einer Uebereinstimmung zwi- 
1) Delegationen an den Bundesrat sind in so zahlreichen Reichsgesetzen ent- 
halten, daß es überflüssig ist, einzelne Beispiele aufzuführen; insbesondere enthalten 
sämtliche Zoll- und Steuergesetze und die meisten anderen das Finanzwesen und 
Gewerbewesen betreffenden Gesetze solche Ermächtigungen. 
2) Beispiele dafür liefern das Kautionsgesetz vom 2. Juni 1869, 8 3 (Bundes- 
gesetzbl. S. 161); Gesetz über den Reichskriegsschatz vom 11. November 1871, 8 3; 
Ges. über die Kriegsleistungen vom 13. Juni 1873 (RGBl. S. 129); Reichsbeamtengesetz 
$ 18, 87, 88; Gesetz über die Seewarte vom 9. Januar 1875, 84 (Reichsgesetzbl. S. 11); 
Reichsbankgesetz vom 14. März 1875, $40 (Reichsgesetzbl. S. 188); vgl. V. vom 13. Aug.
	        
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