Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

106 8 58. Die Rechtsverordnungen des Reichs. 
stehenden Vorschriften zu beobachten und, falls sich Zweifel oder Mei- 
nungsverschiedenheiten ergeben, dieselben durch Beschluß zu ent- 
scheiden. Wenn der Vorsitzende des Bundesrates den Bundesratsbe- 
schluß ausfertigt, so bekundet er dadurch zugleich, daß Zweifel über 
das Verfahren oder über das Resultat der Abstimmung entweder nicht 
erhoben oder ordnungsmäßig erledigt worden sind!). 
Die Ausfertigung der Verordnung hat demnach wie die der Ge- 
setze die Wirkung, daß sie die Ordnungsmäßigkeit des formellen Ver- 
fahrens authentisch bekundet?). Dagegen besteht in einer anderen Be- 
ziehung ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen Gesetzen und Ver- 
ordnungen. In der Form des Gesetzes kann das Reich, so wie jeder 
souveräne Staat, jeden Willensakt, gleichviel worin sein Inhalt besteht, 
rechtswirksam erklären; die Rechtsverordnung dagegen kann nur auf 
Grund einer besonderen Ermächtigung erlassen werden. Die Rechts- 
kraft jeder Rechtsverordnung ist immer zurückzuführen auf ein Gesetz, 
welches für einen bestimmten Kreis von Anordnungen den gewöhn- 
lichen Weg der Gesetzgebung durch den kürzeren Verordnungsweg 
ersetzt. Die Gültigkeit der Verordnung ist daher nicht bloß abhängig 
davon, daß dieser Verordnungsweg formell richtig eingehalten worden 
ist, sondern auch davon, daß er überhaupt zulässig war. Man kann 
dies die materielle Voraussetzung für die Gültigkeit der Verordnungen 
nennen. Die Ausfertigung bestätigt nur die Beobachtung der for- 
m ellen Erfordernisse, nicht dielnnehaltung der materiellen Schranken. 
Bei den formellen Gesetzen gibt es keine solche materiellen Vor- 
aussetzungen; bei ihnen ist durch die Bekundung, daß der Weg der 
Gesetzgebung eingehalten worden ist, zugleich notwendig die Rechts- 
gültigkeit des Gesetzes konstatiert. Bei den Verordnungen ist die Inne- 
haltung des dafür bestehenden Weges unzureichend, wenn dieser Weg 
überhaupt nicht gestattet war. Hieraus ergibt sich, daß in jedem ein- 
zelnen Falle, in welchem es sich um die Anwendung einer Verord- 
nung handelt, eine Prüfung vorgenommen werden muß, ob die Form 
der Verordnung zulässig war°). Es ist dies kein Vorrecht der Gerichte; 
1) Bei diesen Geschäften, welche dem Reichskanzler als Vorsitzendem des Bun- 
desrates obliegen, ist eine Vertretung desselben durch einanderes Mitglied 
des Bundesrates zulässig. Art. 15, Abs. 2 der Reichsverfassung. Es sind auch 
in der Tat Bundesratsverordnungen in Vertretung des Reichskanzlers von dem Präsi- 
denten des Reichskanzleramts ausgefertigt worden. Vgl. z. B. die Verordnung vom 
25. September 1869 (Bundesgesetzbl. S. 635); die Schiffsvermessungsordnung vom 
5. Juli 1872 (Reichsgesetzbl. S. 281) u. v. a. Das Stellvertretungsgesetz vom 17. März 
1878 dagegen ist hierauf unanwendbar. Siehe Bd. 1, S. 356 fg. Uebereinstimmend 
HänelS. 89. 
2) Thomaaa. O.S. 441. 
3) Die entgegengesetzte Ansicht verteidigt v.Martitz, Betrachtungen S. 132g. 
Andererseits hält Otto Mayer, Das Verwaltungsrecht I, S. 282, auch die Prüfung 
der materiellen Rechtsgültigkeit für ausgeschlossen. Die im Text vertretene Ansicht 
ist aber vom Reichsgericht (Entscheid. in Zivilsachen Bd. 24, S. 3 fg.) zur An- 
erkennung gebracht worden.
	        
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