$ 59. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. 115
durch den Grundsatz, daß das Reich die souveräne Gesetzgebungsge-
walt, die Einzelstaaten die Autonomie haben '!\. Daraus ergibt sich,
daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen. Reichsverfassung
Art. 2.
1. Der Vorrang der Reichsgesetze vor den Landesgesetzen beruht
darauf, daß ihre Sanktion von der höheren, und zwar der souve-
ränen Gewalt ausgeht; nicht auf ihrem Inhalt oder der Art der Fest-
stellung desselben. Der Vorrang kommt daher nicht bloß den eigent-
lichen, d. h. unter Zustimmung des Reichstags erlassenen Reichsgesetzen,
sondern auch allen Reichsverordnungen zu, wofern sie rechtsgültig er-
lassen und verkündigt worden sind?). Andererseits macht es keinen
Unterschied, ob die landesrechtlichen Vorschriften Verfassungsbestim-
mungen, einfache Gesetze, Verordnungen oder Gewohnheitsrechtssätze
sind. Durch den Erlaß eines Reichsgesetzes verlieren alle landesrecht-
lichen Vorschriften, welche mit dem Reichsgesetz im Widerspruch stehen,
ipso jure ihre Geltung; ebenso treten formell außer Kraft diejenigen,
deren materieller Inhalt mit dem neuen Reichsgesetz übereinstimmt’);
das Reichsgesetz ist nicht bloß das spätere, sondern auch das stärkere
(höhere) Gesetz ®).
2. Durch den Erlaß eines Reichsgesetzes ergeben sich für die Ge-
setzgebung der Einzelstaaten folgende Beschränkungen:
a) Landesgesetze, welche Rechtssätze, die in einem Reichsgesetz
enthalten sind, wiederholen oder bestätigen, sind unstatthaft und
wirkungslos. Was bereits auf Grund der vom Reiche erteilten Sank-
tion rechtliche Geltung hat, kann nicht von einem Einzelstaat noch-
mals sanktioniert werden’. Ebensowenig kann der Einzelstaat ein
Reichsgesetz durch Landesgesetz erläutern; denn eine authentische
Interpretation eines Gesetzes kann nur vom Gesetzgeber selbst aus-
Landesstrafrecht vollständig verzeichnet. v. Bar, Gesetz und Schuld im Strafrecht
Bd. 1, S.29 ff. Ferner Wach, Handbuch des Zivilprozeßrechts I, S. 189 ff.; Löwe,
Kommentar zur Strafprozeßordnung zu 8 6 des Einführungsgesetzes. Seydel, Bayer.
Staatsrecht II, S. 341 ff.; Mandry, Der zivilrechtliche Inhalt der Reichsgesetze
S. 247 ff.; G. Meyer, Staatsrecht $ 167; Hänel, Staatsrecht I, S. 238 ff.; Zorn,
Staatsrecht I, S. 422 ff. und dessen Bearbeitung von Rönnes Preuß. Staatsrecht I,
S. 127 ff. Für das Privatrecht Niedner, Komment. z. Einf.Ges. zum BGB. (insbes.
zu Art. 3 und 4); Endemann, Lehrb. des bürgerl. Rechts 1, 818. Zitelmann,
Zum Grenzstreit zwischen Reichs- und Landesrecht. Bonn 1902.
1) Vgl.S. 12. Einen wesentlich verschiedenen Standpunkt nimmt Seydel ein,
welcher a. a. O. das Reichsgesetz lediglich als gleichmäßiges Landesgesetz aller Bun-
desstaaten erklärt. Ebenso Böhlaua. a. O. I, S. 289, 309.
2) Abweichender Ansicht war Heinze S. 24. Uebereinstimmend Riedel
S. 41; Seydel, Kommentar S. 42; v. Mohl S. 168; Hänel, Studien I, S. 263,
Note 16; Arndt, Verordnungsrecht S. 184; Meyer a.a.0.; Rönne-ZornS. 128.
DambitschS. 44.
3) Riedel S. 40; Seydel S. 42; Binding S. 282; Wach S. 19; Löwe
Note 3a; Hänel S. 252.
4) Hiersemenzel, Verfassung des Nordd. Bundes I], S. 7.
5) Heinze S. 2.