8 59. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. 119
nur durch ein Reichsgesetz erfolgen, welches den Sinn und die Trag-
weite des früheren Reichsgesetzes deklariert; so lange dies nicht
ergeht, ist in jedem einzelnen Anwendungsfalle von der kompetenten
Gerichts- oder Verwaltungsbehörde nach den Regeln juristischer Inter-
pretation zu beurteilen, ob das Reichsgesetz Ergänzungen durch das
Landesrecht gestattet oder ausschließt. Sehr zahlreiche Reichsgesetze
verweisen ausdrücklich auf die Landesgesetze als Ergänzung der reichs-
gesetzlichen Bestimmungen oder bedienen sich der Formel, daß gewisse
Vorschriften der Landesgesetze durch das Reichsgesetz sunberührt«
bleiben !). Wenn es an einer solchen ausdrücklichen Erklärung fehlt,
kann für die Beantwortung dieser Frage es von Bedeutung sein, ob
ein Reichsgesetz schlechthin »alle in den einzelnen Bundesstaaten
geltenden Rechtsvorschriften«, welche die reichsgesetzlich geregelte
Materie betreffen, beseitigt ?), oder ob es nur »alle entgegenstehenden«
oder ihm »widersprechenden« Bestimmungen der Landesgesetze auf-
hebt). In dem letzteren Falle weist das Reichsgesetz vermittelst des
argum. e contrario auf die ihm nicht widersprechenden Bestimmungen
der Landesgesetze als zu seiner Ergänzung dienende hin und erklärt
damit, daß es keine abschließende oder umfassende Normierung der
von ihm behandelten Materie geben will; es ist demnach zu ver-
muten, daß es auch in Zukunft eine Ergänzung durch die Autonomie
der Einzelstaaten dulden will®). Indes ist nicht zu übersehen, daß
sich die beiden in Rede stehenden Klauseln direkt nur auf die bereits
in Geltung befindlichen landesgesetzlichen Vorschriften beziehen und
daher für die Frage nach der Zulässigkeit einer Ergänzung durch
spätere Gesetze der Einzelstaaten nur als Interpretationsmomente
in Betracht kommen können.
e) Endlich bedarf die Frage, ob Landesgesetze zulässig sind, welche
Vorschriften zur Ausführung eines Reichsgesetzes aufstellen, einer
Beantwortung. Dieselbe ist deshalb nicht ohne Schwierigkeit, weil der
Ausdruck »Ausführungsgesetz« ein vieldeuliger und unbestimmter ist.
Bei der Lehre von den Verordnungen ist bereits hervorgehoben wor-
den, daß man unter Ausführungsbestimmungen zu einem Gesetze die
nähere Entwicklung, Detaillierung, Interpretation und Ergänzung der
in diesem Gesetze sanktionierten Prinzipien zu verstehen pflegt. Be-
1) Insbesondere die Einführungsgesetze zu den Reichsjustizgesetzen.
2) So z. B. das Gesetz vom 11. Juni 1870, $ 57. Das Einführungsgesetz $ 2 zum
Militärstrafgesetzbuch vom 20. Juni 1872.
3) Diese in Reichsgesetzen öfters begegnende Bestimmung ist völlig selbstver-
ständlich und deshalb überflüssig. Bei weitem zweckmäßiger wäre es, wenn die
Reichsgesetze in diesen Fällen die entgegengesetzte Formulierung enthielten,
daß die Landesgesetze in Kraft bleiben, soweit sie mit den Bestimmungen des Reichs-
gesetzes nicht in Widerspruch stehen oder durch dieselben gedeckt werden; denn
dies ist eben nicht selbstverständlich.
4) Löwe a.a. O. Note 4d. Entscheidungen des Reichsgerichts
in Zivilsachen Bd. 7, S. 348 und S. 400 fg.