Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

122 & 59. BReichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. 
setzgebung der Einzelstaaten ganz und gar ausgeschlossen und durch 
die Reichsverfassung untersagt. 
b) Der fakultativen Gesetzgebungskompetenz des Reiches unter- 
liegen die übrigen im Art. 4 der Reichsverfassung aufgeführten Ange- 
legenheiten. Solange das Reich über Gegenstände, welche hierher 
gehören, eine bindende Norm nicht aufstellt, bleiben nicht nur die in 
den Einzelstaaten geltenden Rechtsvorschriften in Kraft, sondern sie 
können auch von dem Einzelstaat im Wege der Landesgesetzgebung 
und — soweit dies nach dem Landesrecht zulässig ist — der Landes- 
verordnung aufgehoben oder abgeändert werden '). Sobald das Reich 
von der ihm zustehenden Befugnis Gebrauch macht, treten die Lan- 
desgesetze nach den vorstehend entwickelten Regeln außer Kraft und 
die Reichsgesetze an ihre Stelle. 
c) Der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz der Einzelstaaten 
unterliegen alle Gebiete, welche nach der Reichsverfassung oder den 
auf Grund derselben ergangenen Gesetzen der Kompetenz des Reiches 
nicht zugewiesen sind. Diese Kompetenz der Einzelstaaten tritt also 
überall subsidiär ein, wo es an einem die Kompetenz des Reiches 
begründenden Rechtssatz fehlt. Eine Erweiterung der Gesetzgebungs- 
kompetenz des Reiches ist eine Abänderung der Reichsverfassung; 
demnach kann das Gebiet, welches der ausschließlichen Gesetzgebung 
der Einzelstaaten überlassen ist, beschränkt werden durch ein nach 
den Vorschriften des Art. 78, Abs. 1 und eventuell Art. 78, Abs. 2 der 
Reichsverfassung zustande gekommenes Reichsgesetz. 
4. Es entsteht nun die Frage, ob Behörden der Einzelstaaten, 
richterliche oder Verwaltungsbehörden, befugt und verpflichtet sind, 
die Zulässigkeit eines Landesgesetzes oder einer landesherrlichen Ver- 
ordnung gegenüber einem Reichsgesetz zu prüfen, oder ob es dem 
Reiche überlassen bleiben muß, kraft der ihm nach Art. 4 und Art. 17 
zustehenden »Beaußsichtigung« und »Ueberwachung« dafür Sorge zu 
tragen, daß die Einzelstaaten Anordnungen zurücknehmen, zu deren 
Erlaß sie der Reichsgesetzgebung gegenüber nicht befugt waren. 
Hier ist zunächst die Einmengung eines unrichtigen Gesichtspunktes 
abzuweisen; nämlich die Berücksichtigung landesgesetzlicher Vorschrif- 
ten über das Recht der Behörden, die Rechtsgültigkeit gehörig ver- 
kündeter landesherrlicher Gesetze oder Verordnungen zu prüfen, wie 
sie z. B. die preußische Verfassungsurkunde Art. 106 aufstellt. Diese 
Vorschriften beziehen sich nicht auf das Verhältnis der vom Einzel- 
staat angeordneten Rechtssätze zu den von einer übergeordneten 
Gewalt ausgehenden Anordnungen, sondern auf die Betätigung der 
Gesetzgebungsbefugnis innerhalb der Machtsphäre des Einzelstaates. 
Entstanden sind diese Anordnungen zu einer Zeit, als den Einzel- 
staaten die souveräne Gesetzgebungsgewalt zustand; anwendbar ge- 
1) Vgl. Bayerisches Schlußprotokoll vom 23. November 1870, Art. VI.
	        
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