Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

8 59. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. 123 
blieben sind sie seit Gründung des Reiches (Norddeutschen Bundes) 
nur auf die den Einzelstaaten verbliebene Autonomie). Soweit die 
Einzelstaaten noch das Recht der Gesetzgebung haben, soweit behalten 
auch diese Vorschriften ungeschmälert ihre Kraft; ob aber die Einzel- 
staaten überhaupt über einen gewissen Punkt noch Gesetze zu geben 
befugt sind, ist eine Frage, welche von jenen Vorschriften völlig unbe- 
rührt bleibt. Das Verhältnis, in welchem die Organe der einzelnen 
Staaten in Beziehung auf die Gesetzgebung zu einander stehen, kann 
durch Gesetz jedes. einzelnen Staates normiert werden; das Verhältnis 
dagegen der Staatsgewalt des Einzelstaates zur Reichsgewalt hinsicht- 
lich der Befugnis, Rechtsvorschriften zu sanktionieren, kann nicht 
durch den Willen des Einzelstaates, also nicht durch Landesgesetz 
entschieden werden. Die Entscheidung dieser Frage ist vielmehr aus 
der Reichsverfassung zu entnehmen und für alle deutschen Staaten 
gleichmäßig zu treffen, gleichviel, welche Rechtsgrundsätze in denselben 
über das sogenannte richterliche Prüfungsrecht landesgesetzlicher An- 
ordnungen gelten. Diese Entscheidung ist durch folgende zwei Sätze 
gegeben: 
a) Jede Behörde, welche in ihrem amtlichen Wirkungskreise Rechts- 
sätze zu handhaben hat, mag es ein Gericht oder eine Verwaltungs- 
behörde sein, muß prüfen, welcher Rechtssatz auf den einzelnen, zur 
Entscheidung stehenden Fall anwendbar ist. Enthalten die vorhan- 
denen Rechtsquellen einander widersprechende Rechtssätze, so muß 
die Prüfung darauf gerichtet werden, welche dieser Rechtsquellen in 
dem konkreten Falle maßgebend ist, und nach bekannten Rechts- 
grundsätzen gebührt hierbei beispielsweise der lex specialis vor der lex 
generalis, der lex posterior vor der lex prior usw. der Vorrang. Er- 
gibt sich ein Widerspruch zwischen einem Reichsgesetz — und daß 
auch die Reichsverfassung ein Reichsgesetz ist, versteht sich von selbst 
— und einem Landesgesetz, so entscheidet einfach der im Art. 2 der 
Reichsverfassung aufgestellte Grundsatz, daß die Reichsgesetze den 
Landesgesetzen vorgehen; d. h. die Behörde hat auf den ihrer Ent- 
scheidung unterliegenden Fall nicht die Vorschrift des Landesgesetzes, 
sondern die des Reichsgesetzes anzuwenden?). Nur unterliegt die 
Frage, ob eine Kollision zwischen einem Reichsgesetz und einem Lan- 
desgesetz vorliegt, dem ressortmäßigen Instanzenzuge, und hieraus er- 
gibt sich eine verschiedene Stellung der Gerichte und der Verwaltungs- 
1) Vgl. Hiersemenzel II,S. 282; v. Holtzendorff, Reichsstrafrecht und 
Landesstrafrecht S. 16 (Allgem. Deutsche Strafrechtszeitung 1871); Schulze, Preuß. 
Staatsrecht II, S. 247. 
2) Heinze S. 134 fg.; Hauser, Verfassung S. 31, Note 9 und die in der 
vorigen Anmerkung angeführten Schriftsteller. Ferner Binding S. 286 und die in 
Note 27 daselbst angegebene Literatur. Unrichtig ist es daher, wenn Riedel S.83 
lit. e diese Prüfung den Behörden nur „in Ermangelung einer speziellen reichs- 
oder landesgesetzlichen Bestimmung oder einer sonstigen verbindlichen Er- 
klärung der hierzu berufenen Organe (?)“ zugestehen will.
	        
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