Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

8 60. Begriff und juristische Natur der Staatsverträge. 127 
schlossen wird, so ist dieser Vertrag für die Staatsangehörigen ohne 
alle und jede Rechtswirkung; sie gehorchen, falls dasselbe zu einem 
Kriege führt, lediglich der Einberufungsordre, dem Marschbefehl, dem 
Gesetz, welches ihnen die zur Kriegsführung erforderlichen finanziellen 
Leistungen auferlegt usw., also nicht die Vereinbarung unter den Staaten 
äußert rechtliche Wirkungen auf die Angehörigen eines derselben, son- 
dern innerhalb jedes Staates wirkt einzig und allein der von der 
Staatsgewalt ausgehende Befehl. Ohne einen solchen Befehl darf 
der einzelne Staatsangehörige gar nicht nach eigenem Ermessen jenes 
Bündnis erfüllen. Ganz dasselbe gilt nun, wenn zwei Staaten überein- 
kommen, gewisse Geschäfte nach gleichmäßigen Grundsätzen zu ver- 
walten, gewisse Einrichtungen übereinstimmend zu treffen, sich gegen- 
seitige Dienste zu leisten usw. Ein solcher Vertrag verpflichtet die 
Behörden der einzelnen Staaten nicht nur nicht, ihn zu erfüllen, son- 
dern sie sind auch nicht einmal befugt, ihn zur Richtschnur ihrer 
amtlichen Tätigkeit zu nehmen, so lange sie nicht von der vorgesetzten 
Behörde, also in letzter Instanz von der Zentralregierung ihres Staates, 
den Befehl erhalten haben, dem Vertrage gemäß zu handeln: und 
der Vertrag verliert für sie sofort jede Geltung, sobald sie von der vor- 
gesetzten Behörde die Weisung bekommen, im Widerspruch mit dem- 
selben zu verfahren. Auch hier ist es also nicht der Vertrag, sondern 
der dienstliche Befehl der vorgesetzten Behörde, die Verwaltungsver- 
ordnung, welche innerhalb des einzelnen Staates rechtliche Wir- 
kungen entfaltet }). 
Wenn nun ein Staatsvertrag einen Inhalt hat, welcher die in einem 
oder mehreren der kontrahierenden Staaten bestehenden Rechtssätze 
verändert oder aufhebt, oder die Schaffung neuer Rechtsregeln erfor- 
dert, so ist es ebenfalls nicht der Staatsvertrag, der imstande wäre, diese 
Rechtssätze hervorzubringen, sondern der Staatsvertrag erzeugt nur 
die Verpflichtung für die kontrahierenden Staaten, daß diese, und 
zwar jederinseinem Gebiete, die vereinbarten Rechtssätze schaffen. 
Dazu ist ein Befehl der Staatsgewalt erforderlich, welcher die Be- 
folgung der in dem Vertrage enthaltenen Rechtsregeln anordnet, sie 
mit Gesetzeskraft ausstattet, d. h. ein Gesetzesbefehl?). 
Der Abschluß eines Staatsvertrages erzeugt demgemäß niemals 
irgendwelche Rechtssätze und Verwaltungsnormen, sondern er be- 
gründet lediglich die Verpflichtung des Staates zum Erlaß derselben. 
Durch den Erlaß dieser Vorschriften wird der Vertrag erfüllt; die 
1) Die Ausführungen von Triepel, daß das „international unentbehrliche Lan- 
desrecht“ nicht in Befehlen, sondern in Ermächtigungen bestehe, beruhen auf einer 
Verkennung des Wesens des Rechtssatzes; auch ermächtigende Gesetze enthalten 
Befehle; aber auch sachlich ist die Behauptung von Triepel unrichtig; zahllose Staats- 
verträge bedürfen zu ihrer Ausführung gesetzlicher Verbote und Gebote. Ob diese 
„international“ oder „staatsrechtlich“ unentbehrlich sind, ist eine müßige Frage. 
2) Den vorstehenden Ausführungen stimmt Donati S. 300—342 in allen Punk- 
ten zu.
	        
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