128 $ 60. Begriff und juristische Natur der Staatsverträge.
Behörden und Untertanen, welche dann diese Verwaltungsvorschriften
und Rechtssätze befolgen, erfüllen nicht mehr den Staatsvertrag, son-
dern den Befehlihres Staates. Hieraus ergibt sich zunächst ein
sehr wichtiges Resultat. Ein Vertrag kann voll wirksam und gültig
abgeschlossen sein, d. h. völkerrechtliche Verpflichtungen der
Kontrahenten erzeugen, und er kann doch gleichzeitig für die Behör-
den und Untertanen des Staates rechtlich wie nicht vorhanden zu er-
achten sein; wenn nämlich der Befehl der Staatsgewalt, ihm gemäß zu
handeln, gar nicht oder nicht in der verfassungsmäßigen Form ergangen
ist. Inzwischen ist der Vertrag eben nicht erfüllt, was ein bei allen
Verträgen des Völkerrechts wie des Privatrechts mögliches und recht-
lich durchaus nicht unzulässiges Stadium ist!').
Die Richtigkeit dieser Unterscheidung ergibt sich in zweifelloser
Weise, wenn der abgeschlossene Staatsvertrag gar nicht veröffentlicht
wird. An der Verbindlichkeit desselben für die Staaten ändert dies
nicht das geringste; die Behörden und Untertanen der kontrahieren-
den Staaten können aber unmöglich durch einen geheimen Staatsver-
trag gebunden werden; sie werden nur verpflichtet durch die in ver-
fassungsmäßiger Form zur Erfüllung dieses Vertrages ergehenden Be-
fehle dieses Staates; es ist nicht erforderlich, daß es jemals bekannt
wird, daß diese Befehle auf Grund jenes Staatsvertrages ergangen sind,
und es ist andererseits ganz unerheblich, wenn der Staatsvertrag nach-
träglich veröffentlicht wird. Staatsrechtlich kommt es einzig und allein
auf die von der Staatsgewalt erlassenen Befehle an?).
Die äußere Trennung des Vertrages, der unter den Staaten ab-
1) Man denke z. B. an das im Prager Frieden Art.5 an Oesterreich ge-
gebene Versprechen, Nordschleswig an Dänemark abzutreten. Seligmann S.85 ff.
mißversteht dies vollkommen, wenn er mir die Ansicht zuschreibt, daß ich einen „Ver-
tragsbruch‘“ für rechtlich nicht unzulässig halte. Die zeitweilige Nichterfüllung eines
Vertrages wegen tatsächlicher oder rechtlicher Hindernisse (Unmöglichkeit) der Er-
füllung, wegen Verzugs, Stundung, Befristung usw. ist doch kein Vertragsbruch.
Insbesondere besteht keine rechtliche Nötigung zur Erfüllung von Verträgen, solange
der Promissar sie gar nicht verlangt.
2) Aus der Praxis des Deutschen Reiches lassen sich mehrere Beispiele anführen,
daß Gesetze oder Verordnungen auf Grund oder behufs Erfüllung völkerrechtlicher
Vereinbarungen erlassen worden sind, ohne daß die letzteren verkündigt worden
sind. So das Gesetz vom 30. März 1874 und die Verordnung vom 23. Dezember 1875
wegen Einschränkung der Konsulargerichtsbarkeit in Aegypten, während die Ueber-
einkunft mit Aegypten nicht veröffentlicht ist; ferner sind die internationalen Tele-
graphen-Konventionen nicht verkündet, wohl aber auf Grund derselben die Tele-
graphen-Ordnungen vom 21. Juni 1872, 24. Januar 1876, 13. August 1880 und 11. Juni
1886 erlassen worden; ebenso liegt der Bekanntmachung vom 31. Oktober 1873 (Reichs-
gesetzbl. S. 366), betreffend die portopflichtige Korrespondenz mit Oesterreich, selbst-
verständlich ein Uebereinkommen mit der österreichischen Regierung zugrunde; die
Bundesratsverordnung vom 8. Juli 1874 zur Ergänzung der Schiffsvermessungsord-
nung (Zentralblatt 1874, S. 282) ist erlassen „im Anschluß an die von der internatio-
nalen Kommission zur Regelung der Abgaben auf dem Suezkanal’ gefaßten: „Be-
schlüsse* usw.