Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

$ 62. Die staatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge. 161 
ist das im Art. 5, Abs. 2 den preußischen Stimmen eingeräumte Wider- 
spruchsrecht bei Gesetzesvorschlägen über das Militärwesen, die Kriegs- 
marine und die im Art. 35 bezeichneten Abgaben praktisch unanwend- 
bar, da nur mit Zustimmung des Kaisers ein Vertragsentwurf zustande 
kommen und die Initiative im Bundesrat vom Kaiser allein ausgehen 
kann, so daß also der Fall unmöglich ist, daß sich im Bundesrat die 
Stimme des Präsidiums gegen die Vollstreckbarkeitserklärung des vom 
Kaiser selbst oder seiner Regierung vorgelegten Vertrages ausspricht. 
Dagegen finden die im Art. 78 der Reichsverfassung enthaltenen 
Rechtsvorschriften auch auf Staatsverträge vollkommene Anwendung). 
Wenn die Vollziehung des Vertrages eine Veränderung der Ver- 
fassung in sich schließt, so gilt dieselbe als abgelehnt, wenn im 
Bundesrate 14 Stimmen sich dagegen erklären ?). Dies findet beispiels- 
weise Anwendung auf Staatsverträge, welche eine Veränderung des 
Bundesgebietes (Reichsverfassung Art. 1) zum Gegenstande haben, ohne 
Unterschied, ob der Vertrag ein Friedensschluß ist, oder ob er ohne 
vorausgegangenen Krieg abgeschlossen worden ist?°). Sollte ein Staats- 
  
  
1) Eine Abweichung von dem regelmäßigen Gange der Reichsgesetzgebung ist 
in einigen Fällen eingetreten, indem der Bundesrat reichsgesetzlich ermächtigt 
worden ist, gewisse Vereinbarungen mit einem auswärtigen Staat in Kraft zu setzen; 
so z. B. das Gesetz vom 13. Dezember 1909 (RGBl. S. 979) über die Handelsbe- 
ziehungen zum Britischen Reich. Ganz eigenartig ist das Gesetz vom 15. Juni 1911 
(RGBl. S. 251) betreffend die Handelsbeziehungen zu Japan. Darnach wird der Bun- 
desrat ermächtigt, für den Fall des Zustandekommens eines Handels- und Schiff- 
fahrtsvertrages und anderer Verträge sie vorläufig in Kraft zu setzen; sie aber dem 
Reichstage bei seinem nächsten Zusammentritte zur Genehmigung vorzulegen und, 
wenn der Reichstag bis zum 31. März 1912 die Zustimmung nicht erteilt hat, die Ver- 
träge spätestens bis zum 31. Dezember 1912 außer Wirksamkeit zu setzen. Dem ver- 
fassungsmäßigen Verhältnis der Reichsorgane zu einander hätte es wohl besser ent- 
sprochen, wenn der Kaiser ermächtigt worden wäre, mit Zustimmung des Bundes- 
rats die Verträge in Kraft und wieder außer Kraft zu setzen. 
2) Uebereinstimmend Thudichum S. 91, 92; Meier S. 294; Pröbst S. 308. 
3) Art. 11, Abs. 1 führt neben einander auf „Frieden, Bündnisse und 
andere Verträge mit fremden Staaten“; Abs. 3 des Art. 11 spricht dann von 
Verträgen mit fremden Staaten; es könnte daher die Meinung entstehen, als beziehe 
sich der Abs. 3 nur auf solche Verträge, welche weder Frieden noch Bündnisse sind. 
Allein eine solche Auslegung würde weder dem Wortlaute noch dem Sinne entspre- 
chen. Dem Wortlaute nicht, weil Abs. 3 aus der Gesamtmasse der Verträge die- 
jenigen heraushebt, welche sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, 
also ein ganz anderes fundamentum divisionis wie die Aufzählung im Abs. 1 des- 
selben Artikels zur Grundlage hat; dem Sinne nach nicht, weil Abs. 1 — wie im 
Texte ausgeführt — die völkerrechtliche Legitimation zum Abschlusse, Abs. 3 die 
staatsrechtlichen Erfordernisse der Vollziehbarkeit betrifft. Für die Gleichstellung 
der Friedensverträge mit anderen Staatsverträgen entscheiden sich Hiersemenzel 
S.52; Thudichum S.9; Seydel 8.161; Westerkamp S.43; in ausführlicher 
Erörterung Pröbst S. 314 ff. Die entgegengesetzte Ansicht vertreten v. Rönne 
a. a. OÖ. S. 307 ff.; Meier S. 306 fg.; Meyer 8 1%, Note 14; PresteleS. 78fg.; 
Schulze ILS. 332; Seligmann S. 19; Hänell, S. 545. Für die letztere An- 
sicht läßt sich, abgesehen von politischen Betrachtungen, nichts anführen, als daß im 
Art. 11, Abs. 1 das Recht, „Frieden zu schließen“, besonders erwähnt ist.
	        
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