162 8 62. Die staatsrechtliche Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge.
vertrag einen mit der Verfassung im Widerspruch stehenden Inhalt
haben, z. B. die Anordnungen derselben über das Eisenbahnwesen
oder über das Post- und Telegraphenwesen modifizieren oder die Fort-
dauer eines Landeskonsulates zugestehen (Art. 56) oder die Grenzen
des Bundesgebietes abändern u. dgl., so wäre es zwar korrekt, durch
ein besonderes Gesetz den Worlaut der Verfassung entsprechend abzu-
ändern; für die Vollstreckbarkeit des Vertrages kann dies aber ebenso-
wenig als rechtliches Erfordernis aufgestellt werden, wie für die Gültig-
keit eines die Verfassung abändernden Gesetzes. Siehe oben S. 38 fl.
Wenn die Vollziehung des Staatsvertrages in de Sonderrechte
einzelner Bundesstaaten eingreift, so ist die besondere Zustimmung
der beteiligten Bundesstaaten erforderlich. Der in Art. 78, Abs. 2 der
Reichsverfassung zugesicherte Schutz der Sonderrechte wäre ein voll-
kommen illusorischer, wenn er sich nur auf den gewöhnlichen Weg
der Gesetzgebung und nicht auch auf den Fall der Genehmigung eines
internationalen Vertrages bezöge. Aus dem Bd. 1, 8 12 entwickelten
Begriff dieser Rechte ergibt sich, daß dieselben materielle Schranken
der dem Reiche zustehenden Gewalt sind !); ihre Respektierung ist
daher unabhängig von der Form, in welcher das Reich seine Gewalt
ausübt ?).
c) Die Ausfertigung.
Gemäß der in Preußen ausgebildeten und vom Norddeutschen
Bunde und dem Deutschen Reiche festgehaltenen Praxis findet eine
Ausfertigung des Gesetzes, welches den Untertanen und Behörden die
Beobachtung oder Vollziehung eines Staatsvertrages anbefiehlt, nicht
statt. Wenn man das völkerrechtliche Geschäft und den staatlichen
Befehl äußerlich so auseinander halten würde, wie es die juristische
Natur der Sache verlangt und wie es in der überwiegenden Mehrzahl
aller Staaten tatsächlich geschieht, so müßte jeder Staatsvertrag zwei-
m al ausgefertigt werden; einmal für den Staat, mit welchem er abge-
schlossen worden ist (Ratifikation), und überdies für den eigenen Staat
behufs der Gesetzgebung (Promulgation). Die völkerrechtliche
Ausfertigung bedarf keiner Bezugnahme auf die vom Bundesrat und
1) Siehe Bd. 1, S. 121 ft.
2) Eine Anwendung hat dieser Grundsatz gefunden bei der Beschlußfassung des
Bundesrates über die Uebereinkunft mit Italien vom 3. Dezember 1874 wegen gegen-
seitigen Verzichts auf die Beibringung von Trau-Erlaubnisscheinen. Der kgl.baye-
rische Bevollmächtigte erklärte: „Die königl. bayerische Regierung hält sich zu-
nächst für verpflichtet, auf den Vorbehalt in Nr. IH, $ 1 des Versailler Bündnisses
vom 23. November 1870 und in Ziff. I des Schlußprotokolls von demselben Tage hin-
zuweisen, erklärt sich indeß bereit, wegen Ausführung des Uebereinkom-
mens, gegen dessen Inhalt eine materielle Erinnerung nicht besteht, die betreffenden
bayerischen Behörden mit Anweisung zu versehen, nachdem die bayerische Landes-
gesetzgebung, soweit sie in den Bereich jenes Reservatrechtes fällt, durch das Ueber-
einkommen nicht alteriert wird.“ Protokolle des Bundesrates 1875, 8 103,
S. 84. Vgl. auch ebendaselbst $ 306, S. 296.