170 8 63. Die Staatsverträge der Bundesglieder.
verleiht der Vorschrift keine höhere Kraft; sie muß vor dem Befehl
der höheren Macht (des Reiches) weichen. Das Reich kann zwar sehr
erhebliche Gründe haben, die von den Einzelstaaten geschlossenen
Staatsverträge bei der Reichsgesetzgebung zu berücksichtigen; wenn
das Reich aber ein Gesetz erläßt, so beseitigt dasselbe nach Art. 2 der
Reichsverfassung alle mit ihm im Widerspruch stehenden landesge-
setzlichen Vorschriften, auch die infolge eines Staatsvertrages ergange-
nen). Jeder auswärtige Staat kennt die rechtliche Unterordnung der
deutschen Einzelstaaten unter die Reichsgewalt und die dadurch be-
wirkte Beschränkung ihrer völkerrechtlichen Geschäftsfähigkeit oder
muß sich vor dem Abschluß eines Vertrages mit ihnen diese Kenntnis
verschaffen: wenn er sich trotzdem darauf einläßt, mit ihnen ein sol-
ches Rechtsgeschäft abzuschließen, so weiß er auch, daß sein Gegen-
kontrahent sich gar nicht anders verpflichten kann als unter dem
selbstverständlichen Vorbehalt, daß die von ihm erteilten Zusiche-
rungen nicht im Widerspruch sich befinden mit den verfassungs-
mäßigen Befehlen des Reiches, und daß er durch den Erlaß eines
solchen Befehls in die rechtliche Unmöglichkeit versetzt
werden kann, den von ihm abgeschlossenen Staatsvertrag noch weiter
zu erfüllen ?).
1) Selbstverständlich kann das Reichsgesetz aber Staatsverträge der Einzelstaaten
aufrecht erhalten; es ist Sache der Interpretation, festzustellen, inwieweit dies der
Absicht des Gesetzgebers entspricht. Vgl. das Urteil des Reichsgerichts, Ent-
scheidungen in Zivilsachen Bd. 24, S. 12ff., dessen Begründung allerdings äußerst
fragwürdig ist. Der wichtigste Fall, in welchem das Reich die Staatsverträge, welche
ein Bundesstaat mit einem ausländischen Staat vor dem Inkrafttreten des Reichsge-
setzes geschlossen hat, aufrecht erhalten hat, ist Art. 56 des Einführungsgesetzes zum
Bürgerlichen Gesetzbuch. Vgl. Motive zum Bürgerlichen Gesetzbuch Bd. 1, S. 2.
2) Die entgegengesetzte Auffassung würde nicht nur mit Art. 2 der Reichsver-
fassung im Widerspruch stehen, sondern auch praktisch zu unsinnigen Resultaten
führen. Jeder einzelne Staat könnte einer vom Reich beabsichtigten Gesetzgebung
zuvorkommen und sie vereiteln, indem er einen Staatsvertrag schließt. Das Recht
des Reiches, das Münzwesen, Maß- und Gewichtswesen, Bankwesen, Patentwesen
usw. einheitlich zu regeln, wäre ein völlig illusorisches gewesen, wenn die Einzel-
staaten vor Erlaß der betreffenden Reichsgesetze imstande gewesen wären, durch
Staatsverträge Rechtssätze bei sich einzuführen, welche auch nach Erlaß des Reichs-
gesetzes noch Geltung behalten hätten. Dasselbe gilt natürlich auch von den noch
nicht vom Reich geregelten Materien. Wenn das Reich ein Gesetz über das Eisen-
bahnwesen, über das Notariatswesen, über die Medizinalpolizei u. s. w. erlassen wird,
verlieren alle mit diesen Gesetzen im Widerspruch stehenden landesgesetzlichen
Vorschriften ipso jure ihre Geltung, mögen sie auf Staatsverträgen beruhen oder
nicht, soweit das Reichsgesetz sie nicht aufrecht erhält. Vgl. auch Thudichum
S. 251; RiedelS. 105; SeydelS. 162; Schulze, Preuß. Staatsrecht II. S. 831.
Den Schluß, welchen Pröbst S. 297 ff. von dem hier entwickelten Rechtssatz auf
die Auslegung des Art. 11 der Reichsverfassung macht, kann ich nicht für zutreffend
erachten. Es handelt sich hier um eine notorische Beschränkung der Staatsge-
walt selbst, die jeder auswärtige Staat kennt oder kennen muß; bei Art. 11 dagegen
um die Legitimation des zur Vertretung befugten Organs und deren Unab-
hängigkeit von den internen und nicht liquiden Zuständigkeiten anderer Organe des