8& 67. Das Reichsland. Geschichte seiner Verfassungsentwicklung. 213
charakteristische Unterschied gegen die Bundesstaaten besteht darin,
daß es keine von der Gewalt des Reichs verschiedene Staatsgewalt
gibt. Die Staatsgewalt in den deutschen Bundesstaaten ist ihrem Grund
und Ursprung nach völlig unabhängig von der Reichsgewalt; sie wur-
zelt nicht in der Souveränität des Reichs und ist nicht von ihr abge-
leitet; sie ist vielmehr älter als die Reichsgewalt. Nicht das Reich
hat die Einzelstaaten konstituiert, sondern die Einzelstaaten haben
durch den Akt der Reichsgründung die Reichsgewalt in das Leben ge-
rufen; das Reich hat nicht den Landesherren und freien Städten einen
Kreis von Hoheitsrechten delegiert, sondern die Einzelstaaten haben
durch den Eintritt in das Reich ihre Souveränität auf die Gesamtheit
übertragen und ihre Landeshoheit in dem durch die Reichsverfassung
begrenzten Umfang zurückbehalten. In allen diesen Beziehungen gilt
vom Reichsland das Gegenteil. Es gab bei der Vereinigung von Elsaß-
Lothringen mit dem Deutschen Reich kein dem Reich gegenüber
selbständiges und unabhängiges Subjekt, welchem die Staatsgewalt über
Elsaß-Lothringen als eigenes Recht zustand, sondern das Reich hatte
die volle und ungeteilte Staatsgewalt über Elsaß-Lothringen, wie sie
von Frankreich auf das Deutsche Reich übergangen war.
In dm Vereinigungsgesetz vom 9. Juni 1871, 8 3,
Abs. 1, kommt dies zum Ausdruck durch die Bestimmung:
»Die Staatsgewalt in Elsaß und Lothringen übt der Kaiser aus.«
Hierdurch wurde das Organ bestimmt, dessen sich das Reich
behufs Ausübung seiner Staatsgewalt bediente. Der Kaiser wurde
nicht zum Landesherrn von Elsaß-Lothringen gemacht, sondern zum
Verwalter der staatlichen Hoheitsrechte des Reichs über Elsaß-
Lothringen. Die Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen blieb ein Teil oder
Ausfluß der Reichsgewalt; sie hat ihr Fundament nicht in der Reichs-
verfassung, sondern in dem Friedensvertrage mit Frankreich, sowie
die Schutzgewalt über die Schutzgebiete auf den Akten ihrer Unter-
werfung unter das Reich beruht. Der »Kaiser« ist ein Organ des
Reiches; das Kaisertum ist ein Bestandteil der Reichsverfassung; es
gibt keine Rechte des Kaisers, die nicht ihrem Wesen nach Rechte
des Reiches sind; der staatsrechtliche Begriff des Kaisers ist von dem
des Reiches gar nicht zu trennen, so wenig wie der Begriff des Bun-
desrates und Reichstages. Mit größter Deutlichkeit trat die Tatsache,
daß der Kaiser nicht als Landesherr eines dem Reich neueingefügten
Staatswesens, sondern als Organ des Reiches die Staatsgewalt über
tags (Stenogr. Berichte 1871, I Session S. 815, 819, 828). Auch Fürst Bismarck
erklärte in der Kommission des Reichstags: „Der Begriff eines Reichslandes sei mit
dem eines selbständigen Staatswesens nicht kongruent.“ (Zweiter Bericht v. 1. Juni
1871, Drucksachen Nr. 169, S. 6.) — Ueber die in der Literatur hervorgetretenen Ver-
suche, dem Reichsland trotzdem den Charakter eines Staates beizulegen, deren Wider-
legung gegenwärtig nicht mehr von Interesse ist, vgl. die vierte Auflage dieses Wer-
kes Bd. H, S. 201 ig.