Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

214 8 67. Das Reichsland. Geschichte seiner Verfassungsentwicklung. 
Elsaß-Lothringen ausübte, darin hervor, daß der Reichskanzler, also 
der Reichsminister, die Anordnungen des Kaisers gegenzeichnete 
(RG. vom 9. Juni 1871, $ 4) und die Regierungsgeschäfte leitete und 
die Erledigung derselben eine im Reichskanzleramt gebil- 
deten Abteilung übertragen wurde. Auch der Bundesrat und Reichs- 
tag, das Reichsoberhandelsgericht als Kassationshof und der Rech- 
nungshof erstreckten ihre Zuständigkeit auch auf diejenigen Angelegen- 
heiten des Reichslandes, welche — nach der Reichsverfassung — zur 
Machtsphäre der Bundesglieder gehörten. Die Organisation des Reichs 
war zugleich die Organisation des Reichslandes. Wie konnte es aber 
besser zum Ausdruck gelangen, daß die Landesstaatsgewalt mit der 
Reichsgewalt identisch war, als daß die Organe des Reichs sie aus- 
übten? Der Reichslandsgedanke und die aus demselben sich ergeben- 
den Folgen traten daher in der tatsächlichen Einrichtung des Reichs- 
landes, in der praktischen Gestaltung seines Verfassungszustandes klar 
und deutlich hervor. 
Gleichzeitig verfügte aber das Vereinigungsgesetz $ 2: »Die Ver- 
fassung des Deutschen Reichs tritt in Elsaß und Lothringen am 1. Ja- 
nuar 1873 in Wirksamkeit«'). Die Reichsverfassung setzt aber durch- 
weg voraus, daß zwischen den einzelnen Territorien und ihren Be- 
völkerungen und der Reichsgewalt eine Staatsgewalt steht, und 
daß die Einzelstaaten als Mitglieder des Reichs, als Staatsrechts- 
subjekte, Anteil an dem Reiche haben. Man könnte nicht mit Un- 
recht die Reichsverfassung das Vereinsstatut der zum Reich vereinigten 
Staaten nennen. In der Reichsverfassung wird nicht nur der Möglich- 
keit, daß das Reich Bestandteile habe, welche der Zentralgewalt unmittel- 
bar unterworfen sind, nicht gedacht, sondern sie wird durch den Zusam- 
menhang aller Bestimmungen, in denen die Bundesstaaten dem Reich 
gegenübergestellt werden, ausgeschlossen. Die Einführung der 
Reichsverfassung stand daher mit dem Begriff des Reichslandes in 
schroffem Widerspruch; das Vereinigungsgesetz enthielt zwei mit ein- 
ander unvereinbare Grundsätze, welche gleichzeitig die Funda- 
mente waren, auf denen sich die Verfassung des Reichslandes auf- 
baute. Daraus ergaben sich Zweifel und staatsrechtliche Schwierig- 
keiten, welche nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis 
sich sehr bemerkbar machten. Die praktisch wichtigste Folge der 
Einführung der Reichsverfassung war, daß die Bevölkerung von Elsaß- 
Lothringen in gleichem Maße und in gleicher Weise wie die übrige 
Bevölkerung des Reichs an den Wahlen zum Reichstage teilnahm und 
15 Mitglieder in denselben entsendete. Dies war auch der Zweck, 
welcher durch die Einführung der Reichsverfassung erreicht werden 
sollte; da die Einwohner von Elsaß-Lothringen einen Teil des Reichs- 
volkes bildeten, war der Ausschluß derselben von der Volksvertretung 
1) Durch das Reichsges. v. 20. Juni 1872 (RGBl. S. 208) wurde der Termin auf 
den 1. Januar 1874 verschoben.
	        
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