8 67. Das Reichsland. Geschichte seiner Verfassungsentwicklung. 215
eine Zurücksetzung, die durch den Begriff des Reichslandes in keiner
Weise begründet war. Die Zugehörigkeit zum Reich fand vielmehr in
dem Anteil an der Bildung des Reichstages einen notwendigen Aus-
druck. Dagegen wurde die Reichslandseigenschaft Elsaß-Lothringens
durch die Einführung der Reichsverfassung nicht geändert und der
Unterschied zwischen dem Reichsland und den Bundesstaaten nicht
beseitigt. Abgesehen von dem Kardinalpunkt, daß in Elsaß-Lothringen
keine von der Reichsgewalt verschiedene Staatsgewalt errichtet wurde,
trat der Gegensatz besonders klar und bestimmt in zwei Rechtssätzen
in die Erscheinung, nämlich in der Anordnung des $ 3, Abs. 4, des
Vereinigungsgesetzes:
Nach Einführung der Reichsverfassung steht bis zu anderweitiger
Regelung durch Reichsgesetz das Recht der Gesetzgebung auch
in den der Reichsgesetzgebung in den Bundesstaaten nicht unter-
liegenden Angelegenheiten dem Reiche zu
und in dem Ausschluß des Reichslandes von der Mitgliedschaft im
Bundesrat und den damit zusammenhängenden Befugnissen; da dies
eine formelle Aenderung des Art. 6 der Reichsverfassung erfordert
hätte, welche nicht erfolgt ist.
Die Kombination der Aufrechterhaltung der Reichslandseigenschaft
mit der Einführung der Reichsverfassung hatte die Folge, daß sub-
jektiv die gesamte Staatsgewalt über das Reichsland in allen Bezie-
hungen dem Reich verblieb und die in der Reichsverfassung durch-
geführte Verteilung der staatlichen Funktionen unter zwei Subjekte,
Reich und Bundesstaat, nicht Platz griff; daß aber objektiv die in
der Staatsgewalt inbegriffenen Rechte in zwei Teile gespalten wurden.
Soweit dieselben nach der verfassungsmäßigen Abgrenzung zur Zustän-
digkeit des Reichs gehörten, fand die Reichsverfassung entsprechende
Anwendung; soweit sie dagegen nach der Reichsverfassung den Einzel-
staaten zustehen, bedurfte ihre Ausübung einer besonderen Regelung.
Daraus ergab sich die Unterscheidung zwischen Reichs- und Landes-
angelegenheiten, Reichs- und Landesgesetzen, Reichs- und Landesbe-
hörden und Beamten, Reichs- und Landesetats usw. und diese Unter-
scheidung war geeignet, darüber zu täuschen, daß es nach dem Begriff
des »Reichslandes« keine Landesangelegenheiten gibt, welche nicht
Reichsangelegenheiten wären und daß die Verwaltung des Reichslandes
lediglich ein Zweig der Reichsverwaltung ist'). In dieser Unterschei-
dung lag der Keim zu einer fortschreitenden Abschwächung der aus
dem Reichslandsbegriff sich ergebenden Folgen und einer Annäherung
der rechtlichen Stellung des Reichslands an die der Bundesstaaten.
1) Rosenberg.a.a. O. verwendet diese objektive Unterscheidung der Landes-
verwaltung von den anderen (reichsverfassungsmäßigen) Zweigen der Reichsverwal-
tung in stark übertriebener Weise zur Rechtfertigung seiner Theorie, daß Els.-Lothr.
ein Staat sei, und unterschätzt andererseits die Bedeutung der subjektiven Identität
der Reichsgewalt und sogenannten Landesstaatsgewalt.