Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

8 67. Das Reichsland. Geschichte seiner Verfassungsentwicklung. 221 
vom 11. Dez. 1871 Art. 6 a. E. ist ausdrücklich die Rede von »Ange- 
hörigen der abgetretenen Gebiete, welche deutsche Untertanen ge- 
worden sind«. Sowenig es vor dem Frankfurter Frieden eine elsaß- 
lothringische Staatsangehörigkeit gab, ebenso wenig konnte es eine 
solche nach demselben geben, da Elsaß-Lothringen kein Staat wurde. 
Das Gesetz vom 1. Juni 1870 paßte daher auf die Verhältnisse des 
Reichslandes nicht und seine unveränderte Ausdehnung auf Elsaß- 
Lothringen widersprach der Logik!). Aber man half sich mit einer 
Fiktion. Man setzte die Landesangehörigkeit zu Elsaß-Lothringen 
der Angehörigkeit zu einem Bundesstaat gleich; man behandelte das 
Reichsland, als wäre es ein Bundesstaat; man übertrug die in dem 
Reichsgesetz vom 1. Juni 1870 durchweg vorausgesetzte mittelbare 
Reichsangehörigkeit auf die Elsaß-Lothringer, welche unmittelbare 
Reichsangehörige waren. Durch nichts aber konnte so sehr der An- 
schein eines eigenen, besonderen Staatswesens erweckt werden, als 
durch die gesetzliche Anerkennung einer besonderen Staatsangehörig- 
keit, wenngleich sie nur eine gesetzliche Fiktion war. 
9. Von besonders großer Wichtigkeit für die staatsrechtliche Stel- 
lung von Elsaß-Lothringen war die Ordnung der Gesetzgebung in den 
Landesangelegenheiten d. h. in den nicht zur verfassungsmäßigen Zu- 
ständigkeit des Reichs gehörenden Angelegenheiten. In dieser Bezie- 
hung sind aber auch innerhalb der Zeit bis zum Inkrafttreten des 
Gesetzes vom 4. Juli 1879 mehrere Perioden zu unterscheiden. 
a) In der Zeit vom Beginn der kriegerischen Okkupation bis zur 
Vereinigung der im Frankfurter Frieden abgetretenen Gebiete mit dem 
Deutschen Reiche wurde die Regierung derselben von dem Oberbefehls- 
haber der deutschen Heere dem Generalgouverneur im Elsaß über- 
tragen?). Die Vollmacht desselben umfaßte alle in der französischen 
Staatsgewalt enthaltenen Befugnisse; er konnte in rechtsverbindlicher 
Weise Anordnungen treffen, welche in den Bereich der Gesetzgebung 
gehören. Von dieser Befugnis machte der Generalgouverneur in aus- 
gedehnter Weise Gebrauch. Zur Verkündigung seiner Verordnungen 
bediente er sich der seit dem 1. September 1870 herausgegebenen »Amt- 
lichen Nachrichten für das Generalgouvernement Elsaß«. So lange die 
okkupierten Gebiete von Frankreich an Deutschland noch nicht abge- 
treten und mit dem Reich durch Reichsgesetz vereinigt waren, konnte 
von einer Reichsgesetzgebung in diesen Gebieten keine Rede sein; viel- 
mehr übte der »Oberbefehlshaber der deutschen Heere« kraft Völ- 
kerrechts (Kriegsrechts) die von ihm okkupierte französische Staats- 
gewalt aus, was die praktisch wichtige Folge hat, daß die vom General- 
gouverneur erlassenen Anordnungen, ebenso wie die in Geltung geblie- 
1) Vgl. über die eigentümlichen Wirkungen dieser Maßregel die Erörterungen 
in der 4. Aufl. dieses Werkes Bd. II, S. 208 ff. 
2) Kabinettsordre v. 14. Aug. 1870.
	        
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