240 $ 67a. Das Reichsland. Die Stimmen im Bundesrat.
durch den Reichskanzler ausübt. Hiernach erhebt sich die Frage, welche
Bedeutung die Anwendung des Art. 7 Abs. 2 auf Elsaß-Lothringen hat.
Da der Kaiser die Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen ausübt, so
steht ihm die im Art. 7 Abs. 2 erwähnte Befugnis zu; der Statthalter
ist in dieser Beziehung nicht an seine Stelle gesetzt worden. Die
elsaß-lothringischen Anträge sind daher kaiserliche Anträge Daß
Elsaß-Lothringen an der betreffenden Angelegenheit ein besonderes
Interesse hat, ist nicht erforderlich; es handelt sich dabei ja nicht um
Landesangelegenheiten, sondern um Angelegenheiten, welche der Zu-
ständigkeit des Reichs unterliegen. Die »Präsidialanträge« erhalten
dadurch ein neues Fundament; während sie bisher nur als preußische
Anträge eingebracht werden konnten !), können sie fortan entweder als
preußische oder als elsaß-lothringische eingebracht werden. Der Unter-
schied ist ein bloß nomineller; es wird darauf ankommen, ob die An-
regung und Vorbereitung vom Ministerium in Elsaß-Lothringen aus-
gegangen ist. In allen Fällen ist es aber ausgeschlossen, daß der Kaiser
gegen einen von ihm selbst eingebrachten Antrag stimmt, d.h. daß er
als König von Preußen seine 17 (bezw. 18) Stimmen gegen einen An-
trag abgibt, welchen er in Ausübung der Staatsgewalt über Elsaß-
Lothringen eingebracht hat. Ebensowenig kann der Kaiser einen
Antrag im Bundesrat stellen, mit welchem sich der Reichskanzler nicht
einverstanden erklärt. Daraus folgt, daß der Kaiser elsaß-lothringische
Anträge im Bundesrat nur mit Zustimmung des Reichskanzlers und
des preußischen Staatsministeriums einbringen kann und daß daher
dieses Recht einen rein formellen Charakter hat, ja als ein bloßes
Scheinrecht bezeichnet werden kann. Die Pflicht des Präsidiums, diese
Anträge der Beratung zu übergeben, ist inhaltslos, da das Präsidium
selbst diese Anträge stellt. Dies alles ist hinsichtlich der Vorschläge
der Bundesglieder völlig anders; die Verschiedenheit des Reichslands
von den Bundesgliedern ist nur äußerlich verwischt, nicht innerlich
ausgeglichen.
6. Elsaß-Lothringen gilt auch im Sinne des Art. 8 der Reichsver-
fassung als Bundesstaat, d. h. es kann in Bundesrats-Ausschüsse ge-
wählt werden. Da die Verhandlungen und Beschlüsse der Ausschüsse
hinsichtlich der einzelnen Bestimmungen und der Wortfassung der
Reichsgesetze vielfach maßgebend sind und mehrere Ausschüsse auch
selbständige Entscheidungen zu treffen haben, und die Tätigkeit der
Ausschüsse sachlich oft eine größere Bedeutung hat als der Formalakt
der Abstimmung im Plenum, so ist die Teilnahme der Vertreter Elsaß-
Lothringens an einem oder mehreren Ausschüssen von nicht geringem
Wert und vielleicht wichtiger als die 3 Bundesratsstimmen, zumal in
den Ausschüssen jeder Staat, auch Preußen, nur eine Stimme hat.
7. Auch Art. 9 und 10 der Reichsverfassung findet auf die Bevoll-
mächtigten Elsaß-Lothringens Anwendung. Im Gesetz vom 31. Mai 1911
1) Vel. Bd. I S. 238g.