Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

22 8 54. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. 
Uebereinsimmung nur eine verfassungsmäßig erforderte Vorbedin- 
gung ist?!). 
Auf die Reichsverfassung sind diese Sätze des deutschen 
Landesstaatsrechtes nicht ohne Abänderung anwendbar, weil das Deutsche 
Reich keine Monarchie ist. Sanktion und Ausfertigung der Gesetze 
fallen nicht mehr zusammen; und ebensowenig darf die Ausfertigung 
mit der Kundmachung verwechselt werden. Die Ausfertigung der Ge- 
setze und der Befehl, dieselben zu verkündigen, stehen vielmehr zwischen 
der Sanktion der Gesetze und ihrer Kundmachung durch das Reichs- 
gesetzblatt als ein besonderer Akt, dessen Vollziehung der Art. 17 der 
Reichsverfassung dem Kaiser überträgt. 
6. Endlich folgt aus dem an die Spitze gestellten Begriffe des Ge- 
setzes die Notwendigkeit seiner Verkündigung. Da jedes Gesetz ein 
Befehl ist, also an Jemanden gerichtet sein muß, so ergibt sich,, daß 
dem Adressaten die Möglichkeit gewährt werden muß, von dem Befehl 
Kunde zu erlangen. Das Gesetz aber ist nicht an bestimmte einzelne 
Personen gerichtet; es enthält einen Rechtssatz, es normiert die allgemeine 
Rechtsordnung, es verlangt Befolgung oder Berücksichtigung von Allen, 
welche an dieser Rechtsordnung Teil nehmen oder zur Handhabung 
und Aufrechterhaltung derselben berufen sind. Daraus ergibt sich, 
daß das Gesetz nicht bloß einzelnen Behörden oder Beamten, die es 
zunächst zur Ausführung zu bringen haben, mitgeteilt werden darf; 
sondern daß es öffentlich bekannt, gemeinkundig gemacht werden 
1) Die Unterscheidung zwischen Ausfertigung und Verkündigung ist angegriffen 
worden von G. Meyer in Hirths Annalen 1878, S. 372ff. und Staatsrecht $ 158, 
Note 8; Seydel in v. Holzendorffs Jahrb. II, S. 424, Bayer. Staatsrecht II, S. 311, 
Note 15 und Kommentar S. 173fg., an welchen sich Dyroff S. 852anschließt; Bin- 
ding, Krit. Vierteljahrsschr. N. F. II, S. 550 und Handb. des Strafrechts I, S. 198 
und Gierke in Grünhuts Zeitschr. VI, S. 230, dem sich Schulze, Deutsches 
Staatsrecht I, S. 527 anschließt. Nach diesen Schriftstellern soll die Ausfertigung 
„ein integrierender Bestandteil der Verkündigung“ sein; sie ist aber ein Akt, der 
sich der öffentlichen Wahrnehmung gänzlich entzieht und der auch nicht darauf ge- 
richtet ist, das Gesetz gemeinkundig zu machen, sondern den Erlaß und den Wortlaut 
desselben urkundlich festzustellen. So wenig die Ausfertigung eines gericht- 
lichen Urteils oder eines notariellen Rechtsgeschäftes ein Bestandteil der Verkündi- 
gung ist, ebensowenig ist dies bei einem Gesetz der Fall. Die Ausfertigung 
ist die Herstellung der authentischen Gesetzesurkunde, des 
Gesetzesoriginals. Wie diese urkundliche Verkörperung des Gesetzes mit der 
Verkündigung desselben identisch sein soll, ist mir unverständlich. Auch kann sich 
nicht hinter der Ausfertigung „ein Stück Sanktion“ (!) verbergen, wie Gierke sagt 
(ähnlich auch Seydel), wohl aber können Sanktion und Ausfertigung uno actu er- 
folgen und deshalb faktisch zusammenfallen. Auch Liebenow, Die Promulgation, 
Berlin 1901, versucht darzutun, daß die Unterscheidung der Ausfertigung einerseits 
gegen die Sanktion, andererseits gegen die Verkündigung nicht begründet sei; vgl. 
aber über seine widerspruchsvollen und oberflächlichen Ausführungen meine Er- 
örterung im Archiv d. öff.R. Bd. 17 S.440 ff. Mit der von mir entwickelten Ansicht 
stimmen überein Zorn] S.4l6fg.; Gareis 8.175; Mejer, Einl. S.297; Hensel 
in Hirths Annalen 1882, S. 25; Hänel, Studien 1I, S.51 u. A. und namentlich in aus- 
führlicher Entwicklung Jellinek S. 321g.
	        
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