8 68. Das Reichsland. Die Organisation des Reichslandes. 297
d) Hinsichtlich der Rechte des Landtages und der Landtagsmit-
glieder enthält das Verfassungsgesetz in den 88 10-22 Vorschriften,
welche teils den für den Landesausschuß bisher in Geltung gewesenen,
teils den für den Reichstag, teils den für die Landtage Preußens und
anderer deutscher Staaten, deren Landtag aus zwei Kammern besteht,
geltenden Regeln entsprechen. Sie brauchen hier nicht im einzelnen
wiederholt zu werden! Hervorzuheben sind nur folgende Punkte: Der
Kaiser kann beide Kammern auflösen, da auch die erste Kammer
zum Teil durch Wahlen gebildet wird. Im Falle der Auflösung ver-
lieren aber nicht nur die gewählten, sondern auch die vom Kaiser
ernannten Mitglieder die Mitgliedschaft. Die Auflösung nur einer
Kammer hat für die andere den Schluß der Sitzungsperiode zur Folge.
Der Landtag muß binnen 90 Tagen wieder versammelt werden ; dadurch
ist zugleich die Frist begrenzt, innerhalb deren die Neuwahlen vor-
genommen werden müssen ($ 12).
Da die Geschäftsordnung keine Bestimmung treffen kann, welche
den Vorschriften des Verfassungsgesetzes widerspricht, so kann sie auch
keine Ausnahme von den beiden im 8 15 Abs. 1 des Gesetzes sank-
tionierten Grundsätzen zulassen; sie darf weder den Ausschluß der
Oeffentlichkeit bei den Verhandlungen einer Kammer noch den Ge-
brauch einer anderen Sprache als der deutschen gestatten ’?).
Zur Gültigkeit der Beschlußfassung ist in der ersten Kammer die
Anwesenheit von mindestens 23 Mitgliedern ?), in der zweiten Kammer
die Anwesenheit der Mehrheit der gesetzlichen Anzahl ihrer Mitglieder,
also 31, erforderlich (8 18). Sämtliche Mitglieder beider Kammern er-
halten eine »Entschädigung« nach Maßgabe eines Landesgesetzes (8 22
Abs. 1)*).
die Kammer kann daher, trotzdem Zweifel an der Gültigkeit der Wahl entstanden
sind, die Wahl unbeanstandet lassen, indem sie den erwähnten Beschluß nicht faßt.
Es hängt also von dem Belieben der Majorität der betreffenden Kammer ab, ob sie
die gerichtliche Entscheidung über die Gültigkeit der Wahl herbeiführen will oder
nicht. Dagegen darf der Beschluß kein Urteil über die Berechtigung der erhobenen
Zweifel bezw. über die Gültigkeit oder Ungültigkeit der Wahl enthalten. Hat das
Gericht bereits einen Einspruch abgewiesen, so kann die Kammer nicht aus dem
gleichen Grunde das Verlangen auf nochmalige Entscheidung des Gerichts stellen.
1) Vrgl. darüber die Erörterungen von Alfr. Schulze S.74ff. u. Heim S.80 ff.
2) Das Gesetz sagt: „Die Geschäftssprache ist deutsch“. Die Geschäftssprache
ist nicht nur die Sprache der Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen, sondern
umfaßt auch die Verhandlungen und Berichte der Kommissionen, der an den Landtag
gerichteten Petitionen usw.
3) Da die Höchstzahl der Mitglieder, so lange Vertreter des Arbeiterstandes der
ersten Kammer nicht angehören, 46 beträgt, so ist dies die Hälfte dieses Maximal-
bestandes.
4) Bis zum Erlasse dieses Gesetzes, längstens jedoch bis zum 1. Juli 1912, er-
halten sie die bisher den Mitgliedern des Landesausschusses zustehende Entschädi-
gung; falls also das Diätengesetz bis zum 1. Juli 1912 nicht zustande kommt, erhalten
sie von diesem Zeitpunkt an nichts. & 21 Abs. 2 des Ges. v. 4. Juli 1879 ist durch
das Ges. v. 31. Mai 1911, $ 27 aufgehoben worden. Vrgl. Schulze S. 84.