8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 23
muß. Es tritt hier in sehr bezeichnender Weise ein Gegensatz zwischen
Gesetzen und Verwaltungsverordnungen hervor, der auf der Verschie-
denheit des Wesens beruht. Vgl. unten 8 65.
Nicht jede Veröftentlichung des Gesetzes aber ist Verkündigung
desselben im staatsrechtlichen Sinne. Die Verkündigung ist ein Willens-
akt des Gesetzgebers und kann deshalb nur ausgehen von dem Gesetz-
geber oder von demjenigen, den er dazu beauftragt hat. Deshalb sind
Abdrücke eines Gesetzes in Sitzungsberichten, Zeitungen, wissenschaft-
lichen Werken usw., trotzdem sie gerade die Gemeinkundigkeit des
Gesetzes am mieisten fördern, keine Verkündigung. Auch die Verkün-
digung ist ein obrigkeitlicher Akt, ein Bestandteil des Gesetzgebungs-
vorganges. Die Verkündigung kann demnach nur von demjenigen
rechtswirksam erfolgen, der dazu verfassungsmäßig legitimiert ist.
Damit hängt ein anderes Erfordernis eng zusammen. Die Art der
Verkündigung muß eine Gewähr dafür bieten, daß der veröffentlichte
Wortlaut des Gesetzes vollständig und genau ist, und daß er in der
Tat Gesetz geworden ist. Diese Gewähr muß eine rechtliche sein;
d. h. es genügt nicht, daß das Gesetz tatsächlich korrekt abgedruckt
worden ist, oder daß keine Verdachtsgründe vorliegen, welche einen
Zweifel an der Richtigkeit des Textes begründen, sondern es muß eine
Verantwortlichkeit für die Verkündigung bestehen. Mit dem
Erfordernis der Legitimation zur Vornahme der Verkündigung fällt
dies insofern zusammen, als die Verkündigung eine Amtshandlung
sein muß, die nur derjenige wirksam vornehmen kann, der dazu kom-
petent ist, und für welche derselbe, wie für alle Amtshandlungen ver-
antwortlich ist. Die Verkündigung muß aus demselben Grunde in den
gesetzlich bestimmten Formen erfolgen; die Fiktion,
daß das Gesetz kundbar sei und die darauf beruhende Rechtsregel
ignorantia juris nocet setzen die Beobachtung dieser Formen notwen-
dig voraus. Die ordnungsmäßige Verkündigung ist für Behörden und
Untertanen das äußere Merkmal, daß ein Gesetz zustande gekommen
ist; man muß dies in zuverlässiger Weise feststellen können, was un-
möglich ist, wenn die Verkündigung in willkürlicher Art erfolgen
könnte !).
8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
Nach den in dem vorhergehenden Paragraphen enthaltenen Aus-
führungen gehören zu dem gültigen Zustandekommen eines Gesetzes
folgende Erfordernisse: die Feststellung des Gesetzesinhaltes, die
sanktion, die Ausfertigung und die Verkündigung. Es ist nun zu unter-
suchen, welche Vorschriften die Reichsverfassung für diese Erfordernisse
der Reichsgesetze aufgestellt hat.
1) Vgl. meine Abhandlung im Archiv f. öffentl. Recht Bd. 18, S. 305 ff.