24 8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
I. Die Feststellung des Gesetzesinhaltes.
1. Nach dem Art. 5, Abs. 1 der Reichsverfassung ist die Ueberein-
stimmung der Mehrheitsbeschlüsse des Bundesrates und des Reichs-
tages zu einem Reichsgesetze erforderlich und ausreichend.
Bundesrat und Reichstag sind in diesen Worten einander voll-
kommen gleichgestellt. Die Tätigkeit des Bundesrates unterscheidet
sich von derjenigen des Reichstages in bezug auf die Feststellung des
Gesetzesinhaltes in keinem Punkte). Keine der beiden Körperschaften
ist auf ein Veto beschränkt oder genötigt, einen Gesetzesvorschlag im
ganzen anzunehmen oder zu verwerfen; ebensowenig besteht eine
Rangordnung hinsichtlich der Zeitfolge der Beschlußfassung. Es hat
demnach jede der beiden Körperschaften die sogenannte Initia-
tive?) Dieselbe kann in beiden nur von einem Antrage eines Mit-
gliedes der betreffenden Körperschaft ihren Ausgang nehmen. Im
Bundesrat ist nach Art. 7, Abs. 2 der Reichsverfassung »jedes Bun-
desglied befugt, Vorschläge zu machen und in Vortrag zu bringen,
und das Präsidium ist verpflichtet, dieselben der Beratung zu über-
geben«°). Im Reichstage müssen Anträge, welche von Reichstags-
1) Eine abweichende Ansicht hat Frickera. a. O.S.31fg. entwickelt. Er legt
dem Reichstage auch hinsichtlich des Gesetzesinhaltes lediglich ein Veto bei (siehe
oben S. 6, Anm.), dagegen habe der Bundesrat allein die Funktion, positiv den Ge-
setzesinhalt zu schaffen. Diese in der Literatur bisher anderweitig nicht vertretene
Auffassung scheint mir durch die Anordnungen der Reichsverfassung in keiner Weise
begründet zu sein. Andererseits behauptet G. Meyer, Anteil etc. S. 55, daß der
Beschluß des Bundesrates, dem Reichstage einen Gesetzentwurf zur verfassungsmäs-
sigen Beschlußfassung vorzulegen, gar nicht eine Abstimmung des Bundesrates über
den Gesetzentwurf selbst, sondern nur darüber enthalte, ob zu demselben die Zu-
stimmung des Reichstages eingeholt werden soll, also „über die geschäftliche
Behandlung“ desselben. Er beruft sich dafür auf die Analogie der Ermächtigung,
welche der konstitutionelle Monarch seinem Ministerium zur Einbringung eines Ge-
setzentwurfs in den Landtag erteilt. Allein ganz abgesehen von den Bedenken, welche
sich gegen diese Analogie erheben, wird die Behauptung Meyers durch die Verhand-
lungen des Bundesrats selbst widerlegt, welche sich in der Regel eingehend mit dem
Inhalt und der Wortfassung des Gesetzentwurfs beschäftigen Auch setzt die vom
Bundesrat an den Reichstag gerichtete Aufforderung, dem vorgelegten Gesetzent-
wurfe die Zustimmung zu erteilen, voraus, daß der Bundesrat mit demselben inhalt-
lich einverstanden ist, nicht bloß, daß er die Beratung des Entwurfs im Reichstage
wünscht. Dasselbe gilt vice versa auch von einem aus der Initiative des Reichstages
hervorgegangenen Entwurf. Der Beschluß des Reichstages ist auch nicht bloß eine
Aufforderung an den Bundesrat, daß er sich mit dem Gesetzentwurf einmal be-
schäftigen möge, sondern er enthält die Zustimmung des Reichstages zum Gesetz-
entwurf selbst. Die Verfassung gibt keinen Anhaltspunkt dafür, zwischen den Be-
schlüssen des Bundesrats und des Reichstages eine so schwerwiegende Verschieden-
heit anzunehmen.
2) Vgl. Dambitsch, Reichsverfassung S. 175.
3) Geschäftsordnung des Bundesrates 88. Präsidialanträge sind in Be-
ziehung auf den Bundesrat preußische Anträge. Siehe Bd. 1, $ 28. Ob diese
Vorlagen in einem der Reichsämter oder in einem preußischen Ministerium ausge-