8 70. Die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete. 277
störten Weiterentwicklung der deutschen Kolonialbestrebungen das
Deutsch-Englische Abkommen vom 1. Juli 1890 anzu-
sehen, durch welches die beiderseitigen Interessensphären in Afrika
definitiv abgegrenzt wurden !. Für Neu-Guinea und die Südsee ist
ein gleiches Abkommen schon am 6. April 1886 abgeschlossen wor-
den ?2). Obgleich diese sogenannten Interessensphären sonach einer
staatsrechtlichen Gewalt des Reichs nicht unterliegen °), so
bilden sie doch eine völkerrechtliche Reservation für die Entfaltung
einer Herrschaft und sind dazu bestimmt, allmählich in wirkliche
Schutzgebiete umgewandelt zu werden. Dem entspricht es, daß der
Reichskanzler ermächtigt ist, in denjenigen Gebieten, deren Vereini-
gung mit dem Schutzgebiet angezeigt erscheint, die hierzu erforder-
lichen Anordnungen in betreff der Organisation der Verwaltung und
Rechtspflege nach Maßgabe der für das Schutzgebiet geltenden Vor-
schriften zu treffen *°).
III. Die dem Deutschen Reiche an den angeführten Landgebieten
zustehenden Rechte werden als Schutzgewalt bezeichnet; es er-
hebt sich daher die Frage nach der juristischen Natur derselben. Zur
Bestimmung derselben dienen folgende Punkte:
1. Zunächst ist es zweifellos, daß die Schutzgewalt durchaus ver-
schieden ist von dem im Art. 3, Abs. 6 der Reichsverfassung erwähnten
»Schutz des Reiches«, auf welchen »alle Deutschen« gleichmäßig An-
spruch haben ’). Obwohl bei den ersten Verhandlungen des Auswär-
tigen Amtes mit der englischen Regierung es sich nur darum handelte,
ob die Kapregierung den den Engländern gewährten Schutz auch »auf
die Deutschen« ausdehnen würde, so ist doch dieser Standpunkt so-
fort verlassen worden, nachdem die englische Regierung erklärt hatte,
keine Verantwortung übernehmen zu können für irgend welche Er-
1) Der Vertrag ist abgedruckt in den Drucksachen des Reichstages 1890, Nr. 166,
S. 1. Nachträgliche Vereinbarungen zur Ergänzung und näheren Grenzbestimmung
siehe im Reichsanzeiger vom 28. Juli 1893 (Ostafrika) und vom 21. November 1893
(Westafrika). Eine Zusammenstellung aller dieser Verträge gibt Stengel in Hirths
Annalen 1895, S. 537 ff.
2) Drucksachen des Reichstags 1885/36, Nr. 291.
3) Anderer Ansicht Zorn], S. 568; FlorackS.7; Kennel, Stellung der
Kolonial-Gouverneure (Speyer 1908) S. 10 ff.
4) Verordnung vom 2. Mai 1894. Reichsgesetzbl. S. 461.
5) Die Behauptung von Rehm, Allgem. Staatsr. S. 77, daß bei den deutschen
Schutzgebieten es sich nicht um die Protektion fremder Staaten und Völker handle,
sondern daß der Name Schutzgebiet sich aus Reichsverf. Art. 3 Abs. 6 erkläre und
sich auf den Schutz deutscher Niederlassungen beziehe, ist tatsächlich und rechtlich
gleich unbegründet und irreführend. Der Name beruht auf den Verträgen, durch
welche der Kaiser den Schutz der afrikanischen und anderen Häuptlinge und
ihrer Völker übernommen hat, siehe oben S. 267 ff., und der territoriale Oha-
rakter der Schutzgewalt steht in schroffem Gegensatz zu dem Schutz, von welchem
Art. 3 Abs. 6 der Reichsverf. redet. Die Rücksicht auf den deutschen überseeischen
Handel ist nur eines der Motive für die Begründung von Schutzverhältnissen
gewesen.