8 70. Die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete. 291
Die rechtliche Fähigkeit des Reiches zum Erwerb und Besitz von
Schutzgebieten beruht überhaupt nicht auf einer speziellen Klausel der
Reichsverfassung, sondern auf der Eigenschaft des Reiches als eines
souveränen Staates, einer unabhängigen, handlungs- und rechtsfähigen
öffentlich-rechtlichen Person. Hieraus folgt aber ferner, daß diejenigen
Rechtsregeln, welche für die Willensakte des Reiches überhaupt gelten,
auch auf diejenigen Willensakte Anwendung finden müssen, welche
sich auf die Ausübung der Schutzgewalt beziehen. Man hat die in der
Reichsverfassung vorgeschriebene Form der Reichsgesetzgebung, die
Zuständigkeit des Kaisers und des Bundesrats zum Erlaß von Ver-
ordnungen und zur Delegation dieser Befugnis und das Erfordernis der
Gegenzeichnung des Reichskanzlers für unanwendbar auf die Schutz-
gebiete erklärt und die Aeußerungen der Schutzgewalt für des recht-
lichen Grundes ermangelnd angesehen, weil die Reichsverfassung in
den Schutzgebieten nicht gilt. Um diesem vermeintlichen Mangel ab-
zuhelfen, hat man nachzuweisen versucht, daß einzelne Sätze der
Reichsverfassung, insbesondere Art. 5 oder auch Art. 17, durch Ge-
wohnheitsrecht oder stillschweigend durch tatsächliche Befolgung in
den Schutzgebieten Geltung erlangt haben). Daß ein Gewohnheitsrecht
bei den ersten maßgebenden Akten, namentlich beim Erlaß des Reichs-
gesetzes vom 17. April 1886 noch nicht bestanden haben kann, ist
ohne weiteres klar und die Annahme einer stillschweigenden Ein-
führung des Art. 5 der Reichsverfassung durch den Erlaß dieses
Gesetzes unterscheidet sich nicht von einer Fiktion. Es sind dies aber
unnötige, selbstgeschaffene Schwierigkeiten. Es handelt sich bei den
Schutzgebietsgesetzen usw. nicht um Aeußerungen einer von der Reichs-
gewalt verschiedenen Staatsgewalt, sondern um Akte der Reichsgewalt?).
Das Reich hat durch den Erwerb der Schutzgebiete seine Souveränität
über dieselben erstreckt; die Reichsverfassung brauchte in den Schutz-
gebieten nicht eingeführt zu werden, damit das Reich seine Staats-
gewalt über dieselben durch seine verfassungsmäßigen Organe zur
Ausführung bringt. Die Schutzgebiete befinden sich in derselben Lage
wie Elsaß-Lothringen vor Einführung der Reichsverfassung. Sowie das
Reichsgesetz über die Einverleibung Elsaß-Lothringens erlassen werden
konnte, bevor die Reichsverfassung dort Geltung hatte, so ist auch das
Reich durch die Tatsache der Erwerbung der Schutzgebiete selbst
staatsrechtlich befugt, die Rechtsverfassung derselben zu bestimmen.
1) Vgl. v. Hoffmann, Zeitschr. für Kolonialgesetzgebung 1905, S. 365 ff.; Ko-
lonialrecht S. 386. Sassen S. 34 ff. Giese S. 429.
2) Richtig hinsichtlich des Erfordernisses der Gegenzeichnung Backhaus, Das
Verordnungsr. in den Kolonien. Bremen 1908, S. 33 ff. Im wesentlichen richtig,
wenngleich nicht ganz klar und konsequent Kennel, Gouverneure S. 23 ff. Dagegen
ist die Bemerkung v. PosersS. 59, daß die kaiserl. Verordn. deshalb der Gegen-
zeichnung bedürfen, weil sie innerhalb des Bundesgebietes erlassen werden, ganz.
verfehlt. Ist die Gegenzeichnung etwa nicht erforderlich für Verordnungen, welche
der Kaiser während einer Nordlandreise oder in Corfu erläßt?