8 70. Die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete. 293
2. Der Kaiser ist bei Ausübung der Schutzgewalt weder an die
Mitwirkung des Bundesrates noch an diejenige des Reichstages gebun-
den; er allein ist das mit Ausübung der Schutzgewalt betraute Organ.
Dadurch ist nicht ausgeschlossen, daß der Kaiser den Weg der Reichs-
gesetzgebung in solchen Fällen beschreitet, in welchen er dies für er-
forderlich erachtet. Der Weg der Reichsgesetzgebung ist in allen Ange-
legenheiten der Kolonien rechtlich zulässig, aber der Kaiser braucht
diesen Weg niemals zu beschreiten, soweit seine Anordnungen sich
innerhalb des Bereichs der Schutzgewalt halten, d. h. nicht zugleich
in den Bereich der Reichsgesetzgebung eingreifen. Wenn aber eine
Anordnung im Wege der Reichsgesetzgebung ergangen ist, so folgt aus
der formellen Gesetzeskraft, daß sie auch nur im Wege der Reichsge-
setzgebung abgeändert oder aufgehoben werden kann.
3. Die Delegation der Schutzgewalt ist eine vollständige, sachlich
unbeschränkte, alle Zweige der Staatstätigkeit umfassende. Sie betrifft
daher auch die Regelung der Rechtsordnung und Rechtspflege, Polizei,
Finanzen (Zölle), Militär, Kirchenwesen usw.
In einer sehr wesentlichen Beziehung ist jedoch der Kaiser in der
Ausübung der Schutzgewalt reichsgesetzlich beschränkt. Das
Reichsgesetz vom 17. April 1886 bestimmt nämlich (8 2), daß das bür-
gerliche Recht, das Strafrecht und das gerichtliche Verfahren, ein-
schließlich der Gerichtsverfassung, sich nach den Vorschriften des
Konsulargerichtsbarkeitsgesetzes richten, und daß
dieses Gesetz selbst Anwendung findet mit der Maßgabe, daß an Stelle
des Konsuls der Richterkommissar und an Stelle des Konsulargerichts
das Schutzgebietsgericht tritt. Nach dem Konsulargerichtsbarkeitsgesetz
finden die reichsgesetzlichen Bestimmungen über bürgerliches
Recht!) (mit Vorbehalt des Handelsgewohnheitsrechts), Strafrecht und
Prozeß und, in Ermangelung derselben, die im bisherigen Geltungs-
bereich des preußischen allgemeinen Landrechts geltenden
Rechtsvorschriften?) Anwendung. Nur in bestimmten Punkten, welche
im 8 3 des Gesetzes vom 17. April 1886 aufgeführt und durch das
Reichsgesetz vom 15. März 1888 erheblich erweitert worden sind, kön-
Joel Ss. 215. Ferner erlangen die für die Schutzgebiete ergehenden Gesetze und
kaiserlichen Rechtsverordnungen nur durch ihre Verkündigung im
Reichsgesetzblatt verbindliche Kraft; Jo&1S. 216. Damit stimmt auch die
bisher befolgte Praxis überein. Abweichender AnsichtMeyer S.19; v. Stengel,
Annalen 1889, S. 145. Auf die Verwaltungsverordnungen des Kaisers und die Ver-
ordnungen der Behörden findet dies keine Anwendung; sie werden im Deutschen
Kolonialblatt und in den lokalen Verordnungsblättern verkündigt. Auch hinsichtlich
der Rechtsverordnungen des Kaisers ist es bestritten, ob Art. 2 der RV. auf sie An-
wendung findet. Siehe oben S. 110 Note 2.
1) Nicht nur des bürgerl. Gesetzbuchs. Ein Verzeichnis der hierher gehörenden
Gesetze gibt Seelbach, Grundzüge der Rechtspflege in den deutschen Kolonien.
Bonn 1904, S. 21 fg. (bis 1901). Vgl. auch Meyer S.19. v. Stengelin Hirths An-
nalen 1895, S. 705ff. Köbner, Das Schutzgebietsges. Berlin 1901.
2) Vgl. Seelbach S. 22 fg.