Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

46 855. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 
politischen Nachteile, welche Störung der Rechtssicherheit, welche Ge- 
fährdung der staatlichen Ordnung mit dem Grundsatz verknüpft wä- 
ren, daß Jeder in jedem Falle auf eigene Gefahr die Untersuchung 
vornehmen müsse, ob ein Gesetz in verfassungsmäßiger Weise zustande 
gekommen’ist!). Die Unrichtigkeit dieses Grundsatzes ergibt sich vom 
rein staatsrechtlichen Gesichtspunkte aus der juristischen Bedeutung 
der Ausfertigung des Gesetzes in dem oben entwickelten Sinne. In 
dem monarchischen Einheitsstaate ist es das nobile officium, das hohe 
politische Amt des Landesherrn zu prüfen und zu konstatieren, be- 
vor er das Gesetz verkündigen läßt, daß es der Verfassung entspre- 
chend errichtet worden ist. Die Verkündigung des Gesetzes ist mehr 
als die bloße Bekanntmachung; der Landesherr ist nicht an die Stelle 
des Ausrufers getreten, welcher im achtzehnten Jahrhundert beim 
Schall der Trommel oder Trompete das Gesetz auf dem Marktplatz 
vorgelesen hat; sondern sein Kronrecht besteht in dem Gesetz- 
gebungsamt, und zur Öbliegenheit dieses Amtes gehört die Kon- 
trolle, daß die für das Gesetzgebungsgeschäft bestehenden Rechtsvor- 
schriften befolgt worden sind. 
Im Deutschen Reich ist dieses Amt durch Art. 17 der Reichsver- 
fassung dem Kaiser übertragen. Nicht jeder einzelne Richter oder 
Verwaltungsbeamte, sondern der Kaiser ist zum Wächter und Hüter 
der Reichsverfassung gesetzt. Ihm liegt es ob, darauf zu sehen, daß 
bei jedem Gesetzgebungsakt des Reiches alle für die Reichsgesetzge- 
bung geltenden Rechtssätze befolgt werden; er prüft im Interesse aller 
Glieder und Untertanen des Reiches, ob das Gesetz verfassungsmäßig 
errichtet ist; und er gibt dem Resultat dieser Prüfung durch Ausferti- 
gung des Gesetzes den formell rechtswirksamen Ausdruck. 
Es ist schon öfters der Gedanke ausgesprochen worden, dab die 
Erwähnung der Zustimmung der Volksvertretung in der veröffent- 
lichten Gesetzesurkunde eine Vermutung der Wahrheit und Le- 
galität begründe; diese Vermutung aber durch den Beweis des Gegen- 
teils entkräftet werden könne?) Der Richter würde daher die Ent- 
1) v. Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht, Politik I, S. 93fg., meint ganz naiv, daß 
wenn der „einfache Bürger“ einem von ihm für verfassungswidrig gehaltenen Gesetze 
den Gehorsam verweigert, dies nur als ein „erfreuliches Zeichen staatlicher Durch- 
bildung und männlicher Gesinnung betrachtet werden könne“. „Fast möchte man so 
weit gehen, zu behaupten, daß selbst ein Miß griff von Seiten eines Bürgers nicht 
viel weniger erfreulich sei (!), indem einerseits die Gesinnung sich als die nämliche 
erweise, auf der andern Seite die Staatsgewalt durch Aufrechterhaltung ihres Rechtes, 
zum mindesten gesagt, nichts verliere.“ Wie aber, wenn einige Millionen einfacher 
Bürger einen solchen „erfreulichen“ Mißgriff tun und dem Gesetz den Gehorsam ver- 
sagen? Oder wenn der einfache Bürger ein ordnungsmäßig verkündetes Gesetz be- 
folgt und nachher, durch Richterspruch über die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes 
belehrt, zu spät zu seinem Schaden erkennt, daß es ihm an „staatlicher Durchbildung 
und männlicher Gesinnung“ fehlt? 
2) Gneist, Verhandl. des vierten deutschen Juristentages I, S. 232; v. Gerber, 
Grundzüge 8 49, S.155fg.; Planck in Jherings Jahrbüchern Bd. 9, S.370; Schulze,
	        
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