Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

& 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 47 
stehungsgeschichte eines Gesetzes zu untersuchen haben, wenn ent- 
weder eine Prozeßpartei das verfassungsmäßige Zustandekommen des 
Gesetzes bestreitet, oder wenn eine politische Partei, eine Fraktion des 
Reichstages oder eine Bundesregierung eine solche Kontestation er- 
hebt und dadurch die Bestreitung jener Vermutung notorisch ge- 
worden ist. Es kann nun der Fall, daß der Kaiser unter Gegenzeich- 
nung des Reichskanzlers ein Gesetz verkündigen läßt mit der aus- 
drücklichen Versicherung, daß dasselbe die Zustimmung des Reichs- 
tages und Bundesrates erhalten habe, während in Wahrheit das Ge- 
setz von einer dieser Körperschaften oder von beiden gar nicht 
genehmigt worden ist, als tatsächlich unmöglich bezeichnet werden. 
Wer könnte ernstlich die Eventualität erörtern wollen, daß Kaiser und 
Reichskanzler sich zu einer so dreisten öffentlichen Lüge verbinden ? 
Dies sind gänzlich unpraktische »Doktorfragen«. Von praktischer Wich- 
tigkeit ist dagegen der Fall, wenn es in Zweifel gezogen wird, ob die 
Abstimmung des Reichstages gemäß Art. 28 und die Beschlußfassung 
des Bundesrates gemäß Art. 5, 6a, 7, 37, 78 der Regierungsvorlage er- 
folgt ist. 
Soll der Richter also verpflichtet und berechtigt sein, zu untersu- 
chen, ob der Reichstag, als er das Gesetz genehmigte, beschlußfähig 
war, und ob sich in Wahrheit die absolute Majorität für dasselbe er- 
hoben hat; soll er etwa auf Grund von Zeugenaussagen feststellen, 
daß die verfassungsmäßig erforderliche Zustimmung nicht erteilt wor- 
den ist? Gneist.a.a.0., dem zahlreiche Anhänger folgen, bricht 
seiner eigenen Iheorie die praktische Spitze ab, indem er den im eng- 
lischen Recht geltenden Grundsatz zur Anwendung bringt, daß dies 
interna corporis seien, über welche das Parlament wie jede Korpora- 
tion selbst zu entscheiden habe; dadurch sei die Kognition der Ge- 
richte ausgeschlossen. Dieser Grund ist aber unzutreffend, auch ab- 
gesehen davon, ob man die Volksvertretung in Deutschland in irgend 
einer Beziehung einer universitas ordinata vergleichen darf. Denn teils 
können die Gerichte unzweifelhaft darüber entscheiden, ob ein Kor- 
porationsbeschluß statutengemäß gefaßt und gültig, oder unter Ver- 
letzung der Statuten zustande gekommen und deshalb null und nichtig 
sei; teils sind die Bestimmungen der Reichsverfassung über die Be- 
schlußfassung des Reichstages keine bloße Geschäftsordnung des Reichs- 
tages, die seiner Autonomie unterliegen oder deren Befolgung in dem 
Ermessen des Reichstages stünde; es handelt sich hierbei nicht um 
interna des Reichstages, sondern um das öffentliche Recht des Reiches!). 
Ganz Unmögliches aber würde dem Richter zugemutet werden, 
Preuß. Staatsrecht II, S. 243fg.; Hänel, Studien I, S. 264. Hierauf kommt auch im 
wesentlichen die scharfsinnige Deduktion Oetkers in der oben S. 45, Note 2 er- 
wähnten Denkschrift S. 69 ff. hinaus. 
1) Eine Widerlegung Gneists auf Grund des englischen Rechts selbst erbringt 
nunmehr JellinekS. 101.
	        
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