Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

48 8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 
wenn er festzustellen verpflichtet wäre, ob die der Oeffentlichkeit ent- 
zogene Beschlusfassung des Bundesrates »verfassungsmäßig« er- 
folgt ist, z.B. ob bei einem Gesetze, welches nach der Ansicht des 
Richters die verfassungsmäßige Kompetenz des Reiches erweitert 
oder jura singulorum betrifft, die Vorschriften des Art. 78, Abs. 1 und 
Abs. 2 befolgt worden sind, ob der letzte Absatz des Art. 7 mit Recht 
oder Unrecht zur Anwendung gekommen ist usw. Auch diese Be- 
stimmungen sind nicht bloß eine Geschäftsordnung des Bundesrates, 
welche lediglich interna desselben regeln, sondern sie sind zugleich 
gemeingültige Sätze des Verfassungsrechtes'). Soll aber etwa der Rich- 
ter den Reichskanzler zeugeneidlich vernehmen oder eine amtliche 
Auskunft von demselben über Tatsachen verlangen, aus denen die 
Verfassungswidrigkeit des Gesetzes hergeleitet werden soll, nachdem 
derselbe Reichskanzler durch Gegenzeichnung des Gesetzes die Ver- 
antwortlichkeit dafür übernommen hat, daß dasselbe verfassungsmäßig 
zustande gebracht worden ist?)? 
Würde man aber das richterliche Prüfungsrecht der verfassungs- 
mäßigen Entstehung eines Gesetzes trotz dieser Bedenken aus konsti- 
tutionellem Doktrinarismus aufrecht erhalten wollen, so dürfte man 
auch vor der Konsequenz nicht zurückscheuen, daß ein in dem Reichs- 
gesetzblatt gehörig verkündigtes Gesetz, über dessen verfassungsmäßi- 
ges Zustandekommen und über dessen Rechtsgültigkeit der Kaiser und 
sein Reichskanzler, der Bundesrat und der Reichstag vollkommen ein- 
verstanden sind, bei Gelegenheit eines Zivil- oler Kriminalprozesses 
von einem Gericht für verfassungswidrig entstanden und deshalb für 
null und nichtig erklärt werden könnte. Denn ist das Reichsgesetz 
von Anfang an nichtig, so kann es dadurch nicht rechtswirksam wer- 
den, daß der Reichstag oder der Bundesrat dazu schweigen ?). 
1) Vgl. auch Hänel I, S. 259. 
2) Hiersemenzel, Verfassung I, S. 10 meint daher, daß der Richter hinsicht- 
lich des Bundesrates sich mit der in der Ausfertigungsformel enthaltenen Bescheini- 
gung begnügen müsse, hinsichtlich des Reichstages dagegen ein Prüfungsrecht habe, 
— was ganz prinziplos ist. 
3) Zu welchen Konsequenzen die hier bekämpfte Ansicht führen müßte, kann 
man aus folgendem Beispiel ersehen. Wenn ein Gericht die gewiß nicht unbegründete 
Ansicht hat, daß die Errichtung des Reichsoberhandelsgerichts (beziehentlich Reichs- 
gerichts) außerhalb der in der Bundesverfassung begrenzten Kompetenz lag, wenn 
dasselbe Gericht der von vielen Staatsrechtslehrern aufgestellten Theorie zustimmt, 
daß es unzulässig und verfassungswidrig sei, Gesetze, deren Inhalt der Verfassung 
widerspricht, zu erlassen, so lange der Wortlaut der Verfassungsurkunde nicht ent- 
sprechend abgeändert worden ist, wenn endlich dieses Gericht sich die Befugnis und 
Pflicht beilegt, die Verfassungsmäßigkeit gehörig verkündeter Gesetze zu untersuchen 
und verfassungswidrig erlassene, wenngleich ordnungsmäßig verkündete Gesetze als 
rechtsungültig zu behandeln: so müßte dieses Gericht die ganze Einrichtung des 
obersten Reichsgerichts für verfassungswidrig erachten, dessen Urteile als null und 
nichtig erklären, ihnen die Vollstreckung versagen u. dgl. Die drei hier vorausge- 
setzten Vordersätze finden sich z. B. bei v. Rönne, Staatsrecht des Deutschen
	        
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