8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 49
Man hat sich für das richterliche Prüfungsrecht des verfassungs-
mäßigen Zustandekommens der Reichsgesetze auf Art. 2 der Reichs-
verfassung berufen, welcher bestimmt, daß das Reich das Recht der
Geseizgebung »nach Maßgabe des Inhalts dieser Verfassung« ausübt ').
Allerdings soll das Reich seine Gesetzgebung nur ausüben gemäß der
Reichsverfassung, nicht unter Verletzung derselben; die objektive Gel-
tung dieser Regel ist unbestreitbar und bedarf keiner Anerkennung in
der Reichsverfassung. Aber darüber sagt der angeführte Art. 2 nichts,
werzuentscheiden habe, ob ein Reichsgesetz nach Maßgabe
des Inhaltes der Reichsverfassung erlassen sei; insbesondere, ob diese
Frage von jedem Gerichtshofe und von jeder Verwaltungsbehörde aus
anderen Gründen und in anderer Weise, oder ob sie einheitlich und
gemeinverbindlich vom Kaiser zu entscheiden sei. Aus dem Art. 2
der Reichsverfassung folgt nur, daß der Kaiser einen ihm vorge-
legten Gesetzestext nicht ausfertigen und zur Verkündigung bringen
soll, wenn dieser Gesetzestext nicht nach Maßgabe der Reichsverfas-
sung vereinbart und sanktioniert worden ist.
Es ist in der Tat nicht einzusehen, welche staatsrechtliche Bedeu-
tung die im Art. 17 der Reichsverfassung dem Kaiser übertragene
»Ausfertigung« der Reichsgesetze haben solle, wenn nicht die im Vor-
stehenden entwickelte?). Die Beschlüsse des Reichstages, sowie die
des Bundesrates werden von den Vorsitzenden dieser Körperschaften,
dem Reichstagspräsidenten, resp. dem Reichskanzler, ausgefertigt. Der
Wortlaut des Gesetzes, wie er von diesen beiden Versammlungen be-
schlossen worden ist, steht daher ohne Zutun des Kaisers bereits ur-
kundlich fest, und der Kaiser könnte darauf beschränkt sein, die Ver-
kündigung anzuordnen. Diese Form besteht in der Schweiz. Der
Beschluß des Nationalrates und ebenso der Beschluß des Ständerates
werden in gleichlautenden oder in einer und derselben Urkunde von
den Präsidenten und Protokollführern der beiden Räte ausgefertigt,
und der Bundesrat beschließt alsdann lediglich die Aufnahme des Bun-
desbeschlusses in die amtliche Gesetzsammlung der Eidgenossenschaft.
Nach der Reichsverfassung aber soll der Kaiser die Gesetze nicht bloß
Reiches II, I, S. 32, 34, Note 1, 62. Aber auch in jedem anderen, viel weniger ein-
greifenden Falle müßte es als ein geradezu unerträglicher Zustand angesehen werden,
wenn Gerichte ein ordnungsmäßig verkündetes Gesetz bei der Entscheidung konkreter
Rechtsfälle für nichtig erachten, während Kaiser, Bundesrat und Reichstag es als ver-
fassungsmäßlig zustande gekommen aufrecht erhalten.
1) Vgl. Heinze, Verhältnis des Reichsstrafrechts zum Landesstrafrecht 1871,
S. 25; Hänel, Studien I, S. 263, 264; v. Rönne II, 1, S. 61.
2) Die rechtliche Bedeutung der dem Kaiser zustehenden Ausfertigung und Ver-
kündigung der Reichsgesetze wurde vor dem Erscheinen der ersten Auflage dieses
Werkes in der Literatur des Reichsstaatsrechts fast nirgends erörtert. Nur Seydel,
Kommentar S. 171fg. geht auf dieselbe ein; er findet darin aber nur ein „Ehrenrecht“
des Kaisers, „eine bloß formelle, keine materielle Befugnis“. Vgl. auch desselben
Bayer. Staatsrecht II, S. 312, 324. An ihn schließt sich Dyroff S. 852 an.