50 8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
verkünden, sondern auch ausfertigen; die Gesetzesurkunde soll nicht
eine Urkunde des Bundesrates, sondern eine Urkunde des Kaisers sein.
Daraus ergibt sich, daß die Gesetzesausfertigung einen selbständigen
Inhalt haben muß; denn der Kaiser ist nicht dazu da, um Beschlüsse
des Bundesrates oder Reichstages zu beurkunden, sondern wenn er
etwas beurkundet, so ist dies stets sein eigener Regierungsakt.
Andererseits bedeutet die kaiserliche Ausfertigung des (esetzes
auch nicht die Genehmigung desselben; denn im Deutschen Reich
geht die Sanktion der Gesetze — wie gezeigt worden ist — nicht vom
Kaiser, sondern vom Bundesrate aus').
Wenn demnach die kaiserliche Ausfertigung des Gesetzes einen
selbständigen Inhalt hat und doch nicht Genehmigung des Gesetzes
ist, so bleibt für dieselbe nichts anderes übrig, als daß sie die formelle
Konstatierung erbringt, daß das Gesetz reichsverfassungsmäßig beraten,
beschlossen und sanktioniert worden ist. Die Ausfertigung enthält wie
jede obrigkeitliche Beurkundung ein Urteil; freilich kein prozessua-
lisches, denn es fehlt an einem Rechtsstreit; aber sie beruht auf der
Feststellung des Tatbestandes und der logischen Subsumtion desselben
unter die geltenden Rechtsregeln ?). Die Ausfertigung des Gesetzes er-
klärt, daß diejenigen tatsächlichen Voraussetzungen im konkreten Falle
vorliegen, welche das Verfassungsrecht für die formelle Gesetzeskraft
erfordert. Sie ist die solemnis editio legis; sie entspricht dem Begriff
der Promulgation, wie ihn die französische Verfassung des Jahres VIII
ausgebildet hat). Wenn die Reichsverfassung aber den Kaiser mit
dieser Funktion betraut, so kann es nicht jedem Richter und Ver-
waltungsbeamten zustehen, in dem einzelnen, von ihnen zu entschei-
denden Falle den kaiserlichen Ausspruch einer Ueberprüfung zu un-
terwerfen und je nach dem Ausfalle derselben ihm einen widerspre-
chenden entgegenzusetzen !).
1) In den monarchischen Einzelstaaten fällt die Ausfertigung mit der Sanktion
zusammen; indem der König das Original des Gesetzes unterschreibt, sanktioniert
und beurkundet er es zugleich. Die Verfassungsurkunden der Einzelstaaten erwähnen
daher die Ausfertigung der Gesetze als einen besonderen Akt nicht.
2) Vgl. Bernatzik, Rechtsprechung und materielle Rechtskraft S. 7 fg.;
Jellinek, S. 402.
3) Vgl. oben S. 18fg. Ueber ein gleichartiges Prinzip im Staatsrecht der römi-
schen Republik vgl. v. Jhering, Geist des röm. Rechts III, 1, $ 55, S. 229 ff.
(3. Aufl. 1877).
4) Noch weiter geht Thudichum, Verfassungsrecht S. %. Er verlangt nur,
daß eine Anordnung im Reichsgesetzblatt als „Gesetz“ bezeichnet sei, aber weder
daß die Zustimmung des Bundesrates und des Reichstages darin erwähnt sei, noch
daß diese Zustimmung wirklich erteilt sei. Ebenso Dambitsch S.50. Das letztere
stellt aber Art. 5 der Reichsverfassung als Erfordernis eines Gesetzes hin. Es muß
daher entweder — wie die herrschende Ansicht will — in jedem einzelnen
Falle vom Richter untersucht werden, ob diesem Erfordernis genügt ist, oder es
muß — wie hier ausgeführt worden ist — das Vorhandensein dieses Erfordernisses
allgemein mit formeller Beweiskraft in der Ausfertigung konstatiert sein. Die