Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

52 $ 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 
beispielsweise durch die Ausfertigung des Postgesetzes vom 28. Oktober 
1871 in formeller und unanfechtbarer Weise konstatiert, daß Würt- 
temberg von dem im Protokoll vom 25. November 1870, Ziff. 3 (Bun- 
desgesetzbl. S. 657) ihm eingeräumten Widerspruchsrecht keinen Ge- 
brauch gemacht hat; und es würde ebenso unzulässig sein, daß etwa 
einmal die Regierung von Württemberg es in Frage stellt, ob die Zu- 
stimmung Württembergs zum Postgesetz in rechtswirksamer Weise 
erteilt sei, als daß ein württembergisches Gericht im einzelnen Rechts- 
fall Erhebungen darüber anstellt. 
3. Ueber die Form, in welcher die Ausfertigung zu erfolgen hat, 
bestimmt die Reichsgesetzgebung nichts. Aus dem Wortbegriff selbst 
ergibt sich, daß die Ausfertigung die wesentlichen Bestandteile einer 
Urkunde, also den vollständigen Wortlaut des Gesetzes, die eigen- 
händige Unterschrift des Kaisers und das Datum enthalten muß. Diese 
Urkunde ist das Original des Gesetzes, durch welche es körper- 
liche Existenz erlangt'). Das Datum der Reichsgesetze bestimmt 
sich nicht nach dem Tage, an welchem sie vom Reich mittelst Bun- 
desratsbeschlusses sanktioniert worden sind, und ebensowenig nach 
dem Tage der Verkündigung, sondern nach dem Tage, an welchem 
der Kaiser sie ausgefertigt hat?). Außer der Unterschrift enthält die 
Ausfertigung auch den Abdruck des kaiserlichen Siegels. 
Erforderlich ist ferner die Gegenzeichnung des Reichskanzlers oder 
seines Stellvertreters®), welcher dadurch die Verantwortlichkeit über- 
nimmt. Reichsverfassung Art. 17. Die Verantwortlichkeit erstreckt sich 
in diesem Falle darauf, daß der dem Kaiser zur Ausfertigung vorge- 
legte Text buchstäblich genau dem vom Reichstage und Bundesrate 
beschlossenen Wortlaut entspricht, und daß das Gesetz in verfassungs- 
mäßiger Weise zustande gekommen ist. Der Reichskanzler hat bei 
Prüfung dieser Frage den Kaiser zu unterstützen und ihm darüber er- 
forderlichen Falles Vortrag zu halten; durch seine Gegenzeichnung 
bekundet er, daß auch er bei pflichtmäßiger Prüfung die rechtliche 
Ueberzeugung gewonnen habe, daß das Gesetz in Uebereinstimmung 
Zeitschr. für Staatswissenschaft 1876, S. 570ff. Siehe Bd. 1, S. 124fig. Die jura 
singulorum sind objektive Schranken für die Reichsgesetzgebung, durch deren Nicht- 
beachtung das Reich materiell Unrecht begehen würde; aber der Einzelstaat hat nicht 
die Befugnis, durch die einseitige Behauptung, daß ein solches Unrecht gegen ihn 
verübt worden sei, sich dem Gehorsam gegen eine Anordnung des Reiches zu ent- 
ziehen, welche formell die Kraft eines Reichsgesetzes erlangt hat. 
1) Vgl. auch Jellinek S. 327 und namentlich Tezner in den (Wiener) Jurist. 
Blättern 1887, S. 49 ff. Derselbe entwickelt scharfsinnig die Konsequenzen, welche 
sich daraus ergeben, daß nicht der Gesetzesdruck, sondern die Gesetzes- 
ausfertigung die Verkörperung des Gesetzeswillens, „das leibhaftige Gesetz“ ist. 
2) Uebereinstimmend Arndt, Kommentar (4. Aufl.) S. 156; Dambitsch S.340 
und die dort zitierten Entscheidungen des Reichsgerichts. 
3) Fehlt die Gegenzeichnung, so mangelt eine wesentliche Vorbedingung der 
rechtsverbindlichen Kraft. Urteil des Reichsgerichts vom 13. Juni 1882. Entschei- 
dungen in Zivilsachen B. 8, S. 3.
	        
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