Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

62 S 56. Gesetze im formellen Sinne. 
wendung durch die Gerichte, oder ob er die Verwaltung und die Tätig- 
keit der dazu bestellten Behörden betraf. Ebenso kann nach dem 
englischen Staatsrecht eine Bill des Parlaments und die königliche 
Zustimmung zu derselben jeden irgend denkbaren Inhalt haben. Schon 
vor der Einführung der konstitutionellen Verfassungsform war daher 
der »Weg der Gesetzgebung« nicht beschränkt auf die Regelung der 
Rechtsordnung und nicht für dieselbe charakteristisch. Diese Ver- 
fassungsform hat aber die Veranlassung gegeben, daß sich ein neuer, 
durch formelle Kriterien bestimmter Begriff des Gesetzes gebildet und 
zu großer staatsrechtlicher Bedeutung entwickelt hat. 
Die konsequente Durchführung der Theorie von der Teilung der 
Gewalten hatte zur Folge, daß alle Funktionen des staatlichen Lebens, 
welche dem Könige allein und den von ihm ernannten Verwaltungs- 
beamten zustanden, zur Exekutive, und alle Funktionen, welche 
ein Zusammenwirken von Krone und Volksvertretung verlangten, zur 
Legislative gerechnet wurden. Dadurch scheiden aus dem Be- 
griffe des Gesetzes einerseits aus alle diejenigen Anordnungen von 
Rechtssätzen, welche der Monarch ohne Zustimmung der Volksver- 
tretung auf Grund einer allgemeinen in der Verfassung, oder einer 
speziellen in einem Gesetze ihm erteilten Ermächtigung zu erlassen 
befugt ist. Nicht jede rechtsverbindliche Anordnung einer Rechts- 
regel, also nicht jedes Gesetz im materiellen Sinne des Wortes, ist da- 
her zugleich ein Gesetz im formellen Sinne. Im materiellen Sinne 
ist gesetzliches Recht gleichbedeutend mit jus scriptum; im formellen 
Sinne ist nur dasjenige jus scriptum Gesetzesrecht, welches unter Zu- 
stimmung der Volksvertretung entstanden ist. 
Andererseits aber fallen unter diesen formellen Begriff des Gesetzes 
alle diejenigen Willensakte des Staates, zu welchen die Zustimmung 
der Volksvertretung erforderlich ist, auch wenn sie keine Anordnung 
von Rechtssätzen enthalten. Ueberall, wo man die selbständige Ent- 
scheidung des Monarchen oder seiner Minister ausschließen wollte, 
erklärte man »ein Gesetz«, d. h. die Beobachtung der für die Gesetz- 
gebung vorgeschriebenen Formen für erforderlich, weil diese Formen 
die Genehmigung der Volksvertretung in sich schließen. Man glaubte, 
indem man das Wort Gesetz auf alle unter Mitwirkung der Volks- 
vertretung zustande gekommenen Willensentschlüsse des Staates, auch 
wenn sie keine Rechtssätze betreffen, anwendete, in der Tat die Volks- 
vertretung auf die »Legislative« beschränkt und die Theorie von der 
Teilung der Gewalten durchgeführt zu haben. 
In Wahrheit aber bezeichnet das Wort Gesetz in diesem Sinne 
nicht einen Teil der in der Staatsgewalt enthaltenen Befugnisse, 
sondern eine Form, in welcher der staatliche Wille erklärt wird, 
gleichviel, was der Inhalt dieses Willens ist. Durch ein »Gesetz« kann 
der Wirtschaftsplan für den Staatshaushalt oder der Kostenanschlag 
für ein Unternehmen festgestellt, die Richtigkeit einer Rechnungslegung
	        
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