8 56. Gesetze im formellen Sinne. 63
anerkannt, das Vermögen der verjagten Dynastie konfisziert und ebenso
derselben restituiert, die Errichtung oder Zerstörung eines nationalen
Denkmals anbefohlen, die Erteilung einer Dotation, des Ehrenbürger-
rechts oder eines Titels, sowie Verbannung oder der Verlust der Staats-
angehörigkeit ausgesprochen werden. Durch ein Gesetz kann ebenso
eine schwebende Rechtsstreitigkeit entschieden, die Gültigkeit oder Un-
gültigkeit eines Aktes der Regierung ausgesprochen, eine Wahl aner-
kannt oder vernichtet, eine Begnadigung oder Amnestie erteilt werden.
Verwaltungsvorschriften von Wichtigkeit, welche nicht nach dem Be-
lieben der Regierung abgeändert oder aufgehoben, sondern dauernd
von den Verwaltungsbehörden befolgt werden sollen, werden überaus
häufig in der Form des Gesetzes erlassen. In allen Gesetzbüchern und
in den meisten größeren Gesetzen finden sich neben wirklichen Ge-
setzen politische Thesen, Lehrsätze, Einteilungen, Definitionen, Kon-
struktionen, Konstatierungen von Tatsachen oder Ansichten, erläuternde
oder begriffsentwickelnde Ausführungen und namentlich instruktionelle
Vorschriften '). Ein und dasselbe Gesetz kann einen sehr verschieden-
artigen Inhalt haben und neben wirklichen Rechtssätzen Verwaltungs-
vorschriften, Finanzmaßregeln, Ermächtigungen usw. enthalten. Es
gibt mit einem Worte keinen Gegenstand des gesamten staatlichen
Lebens, ja man kann sagen, keinen Gedanken, welcher nicht zum
Inhalte eines Gesetzes gemacht werden könnte.
Gesetz im materiellen Sinne und Gesetz im formellen Sinne ver-
halten sich daher zu einander nicht wie Gattung und Art, wie ein
weiterer und ein ihm untergeordneter engerer Begriff, sondern es sind
zwei durchaus verschiedene Begriffe, von denen jeder durch ein an-
deres Merkmal bestimmt wird, der eine durch den Inhalt, der
andere durch die Form einer Willenserklärung ?.. Ein Staatsgesetz
1) Vgl. meine Erörterung im Archiv für öffentl. Recht I, S. 182ff.; Eisele,
Unverbindlicher Gesetzesinhalt. Archiv für zivilist. Praxis Bd. 69, S.309 ff.; Selig-
mann, Begriff des Gesetzes 1886, S. 389 ff.;, Jellinek S. 232fg., 240 fg., 245. Vgl.
insbesondere über die bloß instruktionellen Vorschriften der Reichszivilprozeßord-
ordnung Heilbut, Müssen und Sollen. Archiv für zivilist. Praxis Bd. 69, S. 331 ff.
2) Der Gegensatz zwischen materiellen und formellen Gesetzen ist in der neues-
ten staatsrechtlichen Literatur fast allgemein angenommen worden, so daß es nicht
mehr erforderlich scheint, die Vertreter dieser Ansicht namhaft zumachen. Gegen
den Begriff des formellen Gesetzes haben sich u. a. erklärt v. Martitz in der Tü-
binger Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Bd. 36; Zorn in Hirths An-
nalen 1885, S. 301 ff., und Staatsrecht (2. Aufl.) I, 8 14; Seidler, Budget und Bud-
getrecht S. 184 ff., und mit besonderer Heftigkeit Hänel, „Das Gesetz im formellen
und materiellen Sinne“ (Studien II), Leipzig 1888. Ferner Arndt, Verordnungs-
recht S. 5ff. und Staatsrecht S. 156 ff. Diese Schriftsteller erkennen in Wahrheit nur
den formellen Gesetzesbegriff an, indem sie unterstellen, daß alles, was in Gesetzes-
form gebracht ist, den materiellen Charakter eines Rechtssatzes habe. Vgl. dagegen
meine Ausführungen im Archiv für öffentl. Recht Bd. 1, S.177 ff. und unten Bd. 4,
Anhang; ferner G. Meyer in Grünhuts Zeitschrift Bd. 8, S. 1ff. und Staatsr. $ 155
Note 3 (Zusammenstellung der Literatur. SeligmannS.3ff.; Seydel, Bayer.
Staatsrecht Bd. 2, S. 804 ff.; Jellinek S.73ffl.; Dyroff S.884ffl.; G.Anschütz,