Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

66 S 56. Gesetze im formellen Sinne. 
Befugnis der Volksvertretung zur Teilnahme an der Betätigung der 
Staatsgewalt an. In einem Bundesstaat aber ist ein doppelter Gegen- 
satz möglich, die Bundesgewalt kann der Einzelstaatsgewalt, und inner- 
halb der Organisation beider Gewalten kann das Staatsoberhaupt der 
Volksvertretung gegenübergestellt werden. Der Rechtssatz, daß irgend 
ein Befehl durch Reichsgesetz oder durch Landesgesetz erlassen werden 
könne, enthält daher eine doppelte Bestimmung; er normiert einer- 
seits die Kompetenz des Reiches oder Einzelstaates zum Erlaß eines 
solchen Befehles und andererseits die Form, in welcher der Befehl 
zu erlassen ist. 
Ein Beispiel für eine solche Verwendung des Wortes »Reichs- 
gesetz« liefert der Art. 41, Abs. 1 der Reichsverfassung, wonach 
»kraft eines Reichsgesetzes« Eisenbahnen angelegt oder an Privat- 
unternehmer zur Ausführung konzessioniert und mit dem Ex- 
propriationsrecht ausgestattet werden können. Es handelt sich hier 
nicht um die Aufstellung von Rechtssätzen und die Regelung der 
Rechtsordnung, sondern um eine Regierungshandlung, für welche 
durch die Klausel »kraft eines Reichsgesetzes« sowohl die Kom- 
petenz des Reiches als die Beobachtung der Gesetzgebungsfor- 
men vorgeschrieben wird. Dasselbe gilt vom Art. 69, welcher an- 
ordnet, daß der Reichshaushaltsetat für jedes Jahr »durch ein Gesetz« 
(i. e. Reichsgesetz) festgestellt wird. Deutlicher wird die Verwendung 
des Wortes Gesetz im formellen Sinne zum Ausdruck gebracht, wenn 
die Anordnung getroffen wird, daß das Reich eine Befugnis »im Wege 
der Gesetzgebung« auszuüben habe, denn der Weg der Reichsgesetz- 
gebung ist eben die Gesetzgebungs form. Die Reichsverfassung selbst 
bedient sich dieses Ausdrucks im Art. 18, Abs. 2; Art. 46, Abs. 3; 
Art. 58; 60; 73; 75, Abs. 2; Art. 76, Abs. 2; Art. 78, Abs. 1; und in 
zahlreichen Stellen der Reichsgesetze kehrt er wieder. 
Aus den vorstehenden Erörterungen ergibt sich, daß die Vorschrift, 
eine gewisse Staatstätigkeit soll »durch Reichsgesetz« erfolgen oder 
unterliegt »der Reichsgesetzgebung«, einen dreifachen Sinn haben kann. 
Entweder bildet den begrifflichen Gegensatz das Landesgesetz; 
alsdann erkennt sie die Kompetenz des Reiches an und schließt 
die der Einzelstaaten aus’). Oder dieVerordnung des Kaisers oder 
des Bundesrates usw. bildet den Gegensatz; alsdann schreibt sie die 
Form des Reichsgesetzes vor und schließt die Formen der Verord- 
nung aus. Oder endlich sie will beides zugleich ausdrücken, so- 
wohl die Befugnis des Reiches als auch die Form ihrer Ausübung. 
Für die Interpretation der Reichsverfassung und der auf Grund 
derselben ergangenen Gesetze ist es von Wichtigkeit, diese verschiede- 
nen Bedeutungen auseinander zu halten. Der Sinn der Vorschriften 
wird öfters ein völlig verschiedener, je nachdem man die eine oder 
1) Vorausgesetzt, daß nicht eine konkurrierende Befugnis der Einzelstaa- 
ten und des Reiches anerkannt wird.
	        
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