82 8 57. Die Wirkungen der Reichsgesetze.
Belang, ob das Reichsgesetzblatt in der Tat in allen Teilen des Bundes-
gebietes Verbreitung gefunden hat; die Reichsgesetze gelten auch an
denjenigen Orten, in denen niemals Jemand ein Stück des Reichs-
gesetzblattes zu Gesicht bekommen hat!). Deshalb ist es auch uner-
heblich, ob das Reichsgesetzblatt in einen gewissen Teil des Reichs-
gebietes gelangen konnte oder nicht. In einer belagerten Festung,
in einem vom Feinde besetzten Landstrich, in einer durch Ueberflutung
oder andere Naturereignisse unzugänglich gemachten Gegend erlangen
die Gesetze des Deutschen Reiches in demselben Zeitpunkt wie im
übrigen Bundesgebiet verbindliche Kraft?). Andererseits erlangt vor
Ablauf der gesetzlichen Frist kein Reichsgesetz verbindliche Kraft,
wenngleich es die allgemeinste Verbreitung und Gemeinkundigkeit ge-
funden hat?).
2. Der Termin, an welchem die verbindliche Kraft der Reichsge-
setze beginnt, ist für das ganze Bundesgebiet derselbe; die größere oder
geringere Entfernung von Berlin macht keinen Unterschied *.. Aber
es gilt dies auch nur für das Bundesgebiet, nicht für das Ausland. Die
an die Spitze des Art. 2 der Reichsverfassung gestellten Worte: »inner-
halb dieses Bundesgebietes« sind auch auf den Schlußsatz desselben
Artikels zu beziehen und dort zu ergänzen. Eine Bestätigung findet
dies in dem Konsulatsgesetz vom 8. November 1867, 8 24, Abs. 2
(Bundesgesetzbl. S. 142), wonach in den Konsularjurisdiktionsbezirken
die verbindliche Kraft der Reichsgesetze nach Ablauf von sechs Mo-
naten, von dem Tage gerechnet, an welchem dieselben durch das
Bundesgesetzblatt verkündet worden sind’), anfängt. An die Stelle
dieser Bestimmung ist 8 30 des Reichsgesetzes über die Konsularge-
sollten geraume Zeit vor dem Beginn ihrer Geltung verkündet werden. Dies ge-
schieht aber nicht immer; so ist z. B. in der am 30. Dezember 1871 (Reichsgesetzbl.
S. 479) verkündigten Verordnung zur Verhütung des Zusammenstoßens der Schiffe
auf See der Anfang ihrer Geltung auf den 1. Januar 1872 festgesetzt.
1) Die Verbreitung der Bekanntschaft erfolgt in der Tat durch die Zei-
tungen und den Buchhandel viel wirksamer als durch das Reichsgesetzblatt.
2) Damit ist die Frage nicht zu verwechseln, inwieweit bei Feststel-
lung der subjektiven Verschuldung die Tatsache in Betracht zu
ziehen ist, daß jemand von dem Erlaf3 einer reichsgesetzlichen Vorschrift keine Kunde
hatte oder haben konnte.
3) Uebereinstimmend Hänel, Studien II, S. 651g.
4) Es kann jedoch in einem Reichsgesetz den Einzelstaaten vorbehalten werden,
schon vor dem reichsgesetzlichen Termin die Geltung des Reichsgesetzes in ihren
Gebieten eintreten zu lassen. Dies ist z. B. geschehen in der Gewerbe-ÖOrdnung
vom 21. Juni 1869, 87 (durch Landesgesetz); Münzgesetz 8 1 und Personenstands-
und Zivilehegesetz vom 6. Februar 1875, $79 (im Verordnungswege). Anderer-
seits kann den Einzelstaaten auch gestattet werden, den Anfangstermin der Geltung
einer reichsgesetzlichen Bestimmung über den reichsgesetzlichen Termin hinauszu-
schieben. Beispiele: Gesetz vom 10. November 1871, 8 2 (Reichsgesetzbl. S. 392)
und Gesetz vom 26. November 1871, $ 2 (Reichsgesetzbl. S. 397).
5) Es ist dies der Tag, welcher auf dem Reichsgesetzblatt als der Ausgabetag
angegeben ist. Vgl. auch Seydel, Kommentar S. 46.