Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

8 58. Die Rechtsverordnungen des Reiches. 355 
8 58. Die Rechtsverordnungen des Reiches. 
I. Ueber den Begriff und das Wesen der Verordnung stehen 
sich in der deutschen Literatur zwei Ansichten gegenüber. Nach der 
einen ist die Verordnung eine Aeußerung der Verwaltungs- oder 
Regierungstätigkeit des Staates: sie bildet den Gegensatz zum Gesetze; 
in ihr kommt nicht der Wille des Staates oder Volkes, sondern der 
Wille der Regierung oder des Königs zum Ausdrucke; sie findet An- 
wendung auf dem Gebiete, welches von der Gesetzgebung der freien 
Tätigkeit der Verwaltungsbehörden überlassen ist; sie ist ein Ausfluß 
der sogenannten vollziehenden Gewalt!.. Nach der anderen Ansicht 
ist die Verordnung dem Gesetz gleichartig; sie enthält Rechtsvor- 
schriften; der Ausdruck Gesetz im weiteren Sinne umfaßt die eigent- 
lichen oder formellen Gesetze und die Verordnungen; Verordnungen 
sind demnach Gesetze, welche von dem Staatsoberhaupt oder den mit 
dieser Befugnis ausgestatteten Behörden ohne Mitwirkung der Volks- 
vertretung erlassen sind ?). 
Die Durchsicht jeder größeren Gesetzes- und Verordnungssamm- 
lung lehrt, daß beide Ansichten für einen Teil der Verordnungen 
richtig sind. Es gibt zahllose Verordnungen, welche Rechtssätze ent- 
halten und sich materiell durchaus nicht von Gesetzen unterscheiden, 
welche gewissermaßen nur zufällig statt in der Form des Gesetzes in 
der der Verordnung ergangen sind; ebenso gibt es unzählige Verord- 
nungen, welche Verwaltungsvorschriften enthalten oder Verwaltungs- 
einrichtungen betreffen und nicht Rechtsregeln sanktionieren, sondern 
Aeußerungen der Regierungsgewalt sind. Keine der beiden Definitionen 
trifft daher das Wesen der Verordnung vollständig oder ausschließlich. 
Der Begriff der Verordnung ist vielmehr gerade wie der des Ge- 
setzes ein zweifacher; der Ausdruck hat eine materielle und eine for- 
melle Bedeutung; wie hinsichtlich des Gesetzesbegriffes so ist auch 
1) Vgl. z. B. Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht (5. Aufl.) II, S. 94; Bese- 
ler, Deutsches Privatrecht I, 818; Förster, Preuß. Privatrecht1l,89; Dernburg, 
Preuß. Privatrecht I, $ 16, S. 29; G. Planck in Jherings Jahrb. Bd. 9, S. 339. 
E. A. Chr. (v. Stockmar) in Aegidis Zeitschr. für Deutsches Strafrecht Bd. 1, 
S. 203fg. und namentlich Lorenz v. Stein, Handbuch der Verwaltungslehre I, 
S. 30 fg., S. 64 ff. (2. Aufl. 1876). 
2) Diese Ansicht ist bei den Staatsrechtslehrern die herrschende. Unter ihren 
sehr zahlreichen Vertretern sind hervorzuheben: Zachariä, Staatsrecht Il, 8 160 
(S.168ff.); v. Held, Verfassungsrecht II, S.59ff.; v. Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht 
und Politik IL, S. 404 ff.; v. Gerber, Grundzüge 8 48, S. 150; ferner v. Mohl, 
Württembergisches Staatsrecht I, 8 33, S. 198; v. Pözl, Bayer. Verfassungsrecht 
8 161, 168; v. Rönne, Preuß. Staatsrecht I, 1, S. 172, 185ff.; Schulze, Preuß. 
Staatsrecht I, S. 225; Böhlau, Mecklenb. Landrecht I, 851, S. 311; Roth, Bayer. 
Zivilrecht I, 8 7, S.95; Unger, System des österreichischen Privatrechts I, S. 26, 27; 
Gneist, Verwaltung, Justiz, Rechtsweg S. 73: „Gesetz ist die mit Zustimmung der 
verfassungsmäßigen Landesvertretung erlassene Verordnung; Verordnung der Aus- 
druck des Staatswillens ohne diese Zustimmung.“
	        
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