90 8 58. Die Rechtsverordnungen des Reiches.
enthält zwar Art. 5 die dem Art. 62 der preußischen Verfassungsur-
kunde entsprechende Regel; dagegen hat die Reichsverfassung keine
Bestimmungen, welche den Art. 45 und 63 der preußischen Verfassungs-
urkunde entsprechen.
Einige Schriftsteller haben allerdings aus Art. 17 der Reichsver-
fassung eine Befugnis des Kaisers zum Erlaß von Ausführungsver-
ordnungen hergeleitet'.. Dieser Artikel überträgt aber dem Kaiser
lediglich »die Ueberwachung der Ausführung der Reichsgesetze«. Einer
Ueberwachung können nur Handlungen oder Unterlassungen unter-
liegen, aber nicht Regeln. Dem Kaiser gebührt die Kontrolle über die
durch Reichsgesetze normierte Verwaltung, aber nicht die Aufstellung
von Rechtsnormen ?. Nur für einzelne Materien, nämlich Post und
Telegraphie, Marine und Militär, ist in den Art. 50, 53, 63 der Reichs-
verfassung ein Verordnungsrecht des Kaisers anerkannt.
Ebensowenig enthält die Reichsverfassung eine Ermächtigung zum
Erlaß von Verordnungen mit interimistischer Gesetzeskraft, durch
welche reichsgesetzlich anerkannte Rechtssätze zeitweilig abgeändert
oder aufgehoben werden könnten. Nur insoweit nach Art. 68 der
Reichsverfassung der Kaiser einen Teil des Bundesgebietes in Kriegs-
zustand erklären darf, ist demselben die Befugnis eingeräumt, den ge-
setzlichen Rechtszustand nach Vorschrift des preußischen Gesetzes vom
4. Juni 1851 zeitweise abzuändern. In der Literatur des Reichsstaats-
rechts herrscht darüber auch Einverständnis, daß Verordnungen, wel-
Arndt, Verordnungsrecht S. 26fg., 57 ff., der seine Ansichten wiederholt hat im
Archiv für öffentl. Recht I, S. 512 fg., 534 fg., in seiner Ausgabe der preuß. Verfassungs-
urkunde, im „Selbständigen Verordnungsrecht“ und sonst vielfach. Soweit dieselben
sich auf das preußische Recht beziehen, ist hier nicht der Ort, auf dieselben
einzugehen, zumal eine Widerlegung eine ausführliche Erörterung erfordern würde.
Vgl. darüber die Angaben bei Meyer 8 157, Note 5 und 7. Die Behauptungen von
Arndt sind jetzt in ausführlicher und völlig überzeugender Weise widerlegt worden
von Anschütz, Die gegenw. Theorien über den Begriff der gesetzgeb. Gewalt und
den Umfang des kgl. Verordnungsrechts nach preuß. Staatsrecht, 2. Aufl., Tübingen 1901
und von Hubrich in Hirths Annalen 1904 S. 770 ff. Was das Reichsrecht anlangt,
so hat Arndt in diesem Punkte Zustimmung lediglich bei Zorn (2. Aufl.) I, S. 482
gefunden. Gegen ihn haben sich erklärt E. Mayer in der Krit. Vierteljahrsschr.
Bd. 27, S. 186 ff. (1885); Binding, Strafrecht I, S. 205fg.; G. Meyer, Staatsrecht
8 165, Note 10; Schulze, Deutsches Staatsrecht II, $ 288 (1886); Seydel, Komment.
S. 140, und besonders Seligmann.a.a.0. SS: 115fg.; Jellinek S. 373fg.; Hänel,
Staatsrecht I, S. 279 ff.; Rosin S. 33 und in eingehender Weise Hubrich, Reichs-
gericht (1905).
1) v. MartitzS. 54, 63; Böhlau, Mecklenb. Landrecht 1, S. 289; v. Mohl
S. 169 ff.; v. RönnelI, S. 214fg., 231; II, S. 571g.
2) Vgl. auch Seydel in Hirths Annalen 1876, S. 13. Bemerkenswert ist auch,
daß keine einzige kaiserliche Verordnung auf Grund des Art. 17 der Reichsver-
fassung erlassen worden ist. Die Verordnung vom 26. Juli 1867 (Bundesgesetzbl. S. 24)
betreffend die Einführung des Bundesgesetzblattes ist zur Ausführung der Art. 2
und Art. 17 erlassen; sie ist die einzige kaiserliche Verordnung, in deren Eingangs-
formel der Art. 17 der Reichsverfassung überhaupt erwähnt worden ist.