8 92. Die Zeugenpflicht. 483
auf den Antrag einer Partei und im Vermögensinteresse derselben in
Anspruch genommen wird. Die freiwillig übernommene und die ge-
setzliche Zeugenpflicht sind ihrer Natur und ihrem Ursprung nach
grundverschiedene Rechtsbildungen, welche verschiedenen Zuständen
des Staates und des Rechtsschutzes entsprechen. Im heutigen Recht
sind nur noch Reste der vertragsmäßigen Zeugenpflicht in dem Insti-
tut der Solennitäts- und Urkundszeugen vorhanden; die Zeugenpflicht
ist gegenwärtig eine auf Gesetz beruhende öffentlich-rechtliche
Verpflichtung, welche der Staat auferlegt und deren Erfüllung er im
öffentlichen Interesse und mit den Mitteln der Staatsgewalt erzwingt.
Die gesetzliche Zeugenpflicht ist begrifflich nicht beschränkt
auf die Verpflichtung, den Gerichten Aussagen zu machen, und
noch viel weniger objektiv auf Tatsachen, welche in einem Strafprozeß
oder Zivilprozeß von Erheblichkeit sind; sie kann allen Behörden
gegenüber bestehen und für alle denkbaren staatlichen Zwecke in An-
spruch genommen werden. Ihrer historischen Ausbildung gemäß
ist aber die Zeugnispflicht eine Gerichtspflicht; sie wurde vom
Staate nur für die Zwecke der Rechtspflege in Anspruch genommen,
nachdem die auf zufälliger Kenntnis beruhende Aussage von Privat-
personen als ein im Prozeß zulässiges Beweismittel Anerkennung ge-
funden hatte. Man darf aber diese beiden Dinge, die prozessua-
lische Zulässigkeit des Zeugenbeweises und die staats-
rechtlicheZeugenpflicht, nicht verwechseln !). Für das Staats-
recht kommt nur die letztere in Betracht; für die wissenschaftliche
Erkenntnis ihrer Voraussetzungen, ihres Umfanges und ihres Inhaltes
ist es aber von größter Wichtigkeit, die Grundsätze des Prozeßrechts
über den Zeugenbeweis und die Grundsätze des Staatsrechts über
die Zeugenpflicht scharf auseinanderzuhalten; es kann einerseits im
Prozeß ein Zeugenbeweis ohne Zeugenpflicht gestattet sein und es kann
andererseits eine Zeugenpflicht auch außerhalb des Prozesses durch-
geführt werden. Regelmäßig ist aber im heutigen Recht die eidliche
Vernehmung von Zeugen nur den Gerichten übertragen und ebenso
kann der Zwang zur Erfüllung der Zeugenpflicht regelmäßig nur von
den Gerichten geübt werden. Aus diesen Gründen erscheint die Zeu-
genpflicht im großen und ganzen als einezuZweckenderRechts-
1) Wenn ein Prozeßverfahren, wie das altgermanische, einen Zeugenbeweis
überhaupt nicht oder nur in ganz engen Grenzen kennt, so gibt es allerdings auch
keine gesetzliche Zeugenpflicht; es kann aber der Zeugenbe weis ohne gesetzliche
Zeugenpflicht eingeführt werden und zwar nicht bloß der Beweis mit Urkunds-
zeugen, die unter Einwilligung beider Parteien gleich beim Abschluß des Rechts-
geschäfts als Zeugen zugezogen worden sind, und sich gegen Entgelt (Wissenspfen-
nige, Urkundsgeld) oder unentgeltlich zur Ablegung des Zeugnisses für den Fall, daß
dasselbe erforderlich wird verpflichtet haben, sondern auch der Beweis mit Zeugen
aus zufälliger Kenntnis, deren Ausfindigmachung und Produktion den Parteien über-
lassen ist. Die Geschichte des mittelalterlichen Prozeßrechts bietet in dieser Be-
ziehung einen reichen Stoff.